Ein neuer Anfang für die Liebe. Susan Anne Mason
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Im Inneren des Raumes roch es nach Rauch und faulendem Holz. Selbst ein Jahr nach der zerstörerischen Explosion, die den Großteil des Hafens und der Stadt selbst in Schutt und Asche gelegt hatte, waren die schrecklichen Auswirkungen immer noch zu sehen. Und wegen der weiterhin zugenagelten Fenster gelangte nur wenig Frischluft ins Innere, um die unangenehmen Gerüche zu vertreiben. Die umfangreiche Zerstörung musste die Stadt in eine ernsthafte finanzielle Notlage gebracht haben. Aus welchem anderen Grund waren sonst zahlreiche Häuser noch nicht wieder neu aufgebaut worden?
Nach einem kurzen Blick zum Schalter hielt Quinn ein Stöhnen zurück. Dort saß der gleiche schwierige Mann wie sonst auch und schrieb etwas in ein Kassenbuch. Ob heute irgendetwas anders laufen würde als bei den letzten vier Gesprächen mit Mr Churl?
Churl – Griesgram. Ein durchaus passender Name!
Trotz der unangenehmen vorhergehenden Begegnungen setzte Quinn ein Lächeln auf, fest entschlossen, Mr Churl heute von seiner Argumentation zu überzeugen. Früher oder später musste der Mann einfach nachgeben!
„Guten Morgen, Mr Churl“, grüßte Quinn mit einer leichten Verbeugung, während er den Hut abnahm. „Wie geht es Ihnen an diesem schönen Tag?“
Der Mann sah über seinen Kneifer und warf Quinn einen steinernen Blick zu. „Ihre Heiterkeit bringt Sie auch heute nicht weiter, Mr Aspinall. Meine Antwort ist die gleiche wie gestern und die letzten drei Male, die Sie hier waren.“
„Vier“, korrigierte Quinn ihn ruhig.
„Wie bitte?“
„Ich war bereits viermal hier. Heute ist das fünfte Mal.“
Mr Churl schnaubte nur. „Dann sind Sie eben fünfmal töricht gewesen, denn an meiner Antwort hat sich nichts geändert. Ich kann Ihnen nicht preisgeben, wo sich Ihre Geschwister befinden. Diese Information ist vertraulich.“
Aus dem Augenwinkel sah Quinn eine Bewegung. Dann blickte er sich um und entdeckte hinter dem Vorhang zum Hinterzimmer eine junge Frau. Mit einem Stapel von Büchern auf den Armen kam sie nach vorne und stellte sie nach einem kurzen Blick zu Quinn auf dem Schalter ab. Er erkannte sie von seinen vorherigen Besuchen hier.
„Starren Sie ihn nicht so an, sondern machen Sie, dass Sie zurück an Ihren Platz kommen.“ Der raue Ton des Beamten ließ sie zusammenzucken.
„Ja, Sir“, erwiderte die Frau und zuckte kurz mit den Schultern, als versuchte sie, sich damit bei Quinn zu entschuldigen, bevor sie in die Untiefen des Gebäudes zurückkehrte.
Quinn unterdrückte ein Stöhnen. Im Gegensatz zu dem ungehobelten Mr Churl schien Ms Holmes sehr sympathisch zu sein. Wenn er doch bloß allein mit ihr sprechen könnte! Sicher konnte er sie davon überzeugen, ihm die Informationen zu geben, nach denen er so verzweifelt suchte. Doch unglücklicherweise machte Mr Churl wohl niemals eine Pause von seiner Arbeit.
„Bitte, Sir“, flehte Quinn und legte die abgegriffene Fotografie, auf der alle seine Geschwister zu sehen waren und die Quinn stets bei sich trug, vor dem Mann auf den Schalter. Vielleicht gelang es den süßen Gesichtern von Becky, Cecil und Harry, ihn umzustimmen. „Ich habe einen sehr weiten Weg auf mich genommen, um meine Familie zu finden. Es würde mir – und meiner kranken Mutter – alles bedeuten, herauszufinden, wo sie sind und wie es ihnen geht. Bitte helfen Sie mir dabei!“ An diesem Punkt war es Quinn gleich, dass er geradezu bettelte.
Der Beamte warf widerwillig einen Blick auf die Fotografie und seine Hand hielt über dem Kassenbuch inne. Dann räusperte er sich, stellte den Füllfederhalter ins Tintenfass und atmete laut aus. „Mr Aspinall, es ist nicht so, als hätte ich kein Verständnis für Ihr Anliegen. Doch soweit ich informiert bin, wurden die Kinder, die mit Dr. Barnardos Organisation hierhergekommen sind und keine Waisen waren, von ihren Eltern verlassen. Damit wurde jedes Recht auf die Kinder abgetreten. Sie können also auf keinen Fall etwas an der Unterbringung Ihrer Geschwister verändern. Sie sind vertraglich gebunden! Und deshalb werden ihre Arbeitgeber es auch nicht gern sehen, wenn jemand aus der Familie den Kontakt zu ihnen sucht oder gar probiert, sie zurück nach Hause zu locken.“
„Das verstehe ich, Sir.“ Von diesen kleinen Informationsfetzen ermutigt, beugte Quinn sich nach vorn und sah dem Beamten in die Augen. „Und ich versichere Ihnen: Ich möchte mich nur vergewissern, dass sie gesund und zufrieden sind, damit ich das auch unserer Mutter erzählen kann.“
O Herr, bitte vergib mir diese Flunkerei.
Als Quinn erfahren hatte, dass seine Geschwister ohne die Zustimmung seiner Mutter nach Kanada geschickt worden waren, hatte er geschworen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um Cecil, Becky und Harry wieder nach Hause zu holen. Wo sie hingehörten!
Das gab seiner Mutter vielleicht wieder einen Grund zu leben.
Lange betrachtete der Mann Quinn. Dieses Mal war sein Blick nicht voller Ärger oder Gereiztheit, dieses Mal strahlte er Mitgefühl aus. Hoffnung keimte in Quinns Brust auf und die Kapitulation des Beamten erwartend, formten seine Lippen ein zaghaftes Lächeln.
Doch dann schüttelte der Beamte wieder den Kopf. „Es tut mir leid. Wenn ich diese Informationen weitergebe, könnte ich meine Stelle verlieren.“ Dann sprach er leiser weiter. „Die beste Chance hätten Sie im Fairview-Kinderheim am Stadtrand. Manche der Waisen werden von dort aus weitervermittelt. Andernfalls würde ich Ihnen empfehlen, nach Toronto zu reisen. Da gibt es einige Heime von Dr. Barnardo. Vielleicht haben Sie dort mehr Glück. Und nun, wenn Sie mich bitte entschuldigen würden …“ Mit diesen Worten stand Mr Churl auf, schenkte Quinn ein steifes Nicken und verschwand hinter dem Vorhang.
Erneut überkam Quinn eine Welle der Enttäuschung. Noch immer wusste er nicht genau, wohin man seine Geschwister vermittelt hatte. Doch wenigstens hatte er heute einen kleinen Hinweis erhalten, der ihn womöglich weiterbringen konnte. Nun galt es, herauszufinden, wo sich das Fairview-Kinderheim am Stadtrand befand.
Quinn steckte die Fotografie wieder weg, setzte seinen Hut auf und ging in Richtung Tür. Als er aus dem Gebäude heraustrat, kam ihm ein erfrischender Luftzug entgegen. Obgleich es fast Juni war, sorgte die Nähe zum Meer für eher frühlingshafte Temperaturen. Deshalb zog Quinn seinen Mantel fester um die Schultern, schlug den Kragen hoch bis an die Ohren und musterte die Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Vielleicht fand er dort ein Taxi. Sicher würde der Fahrer wissen, wo das Fairview-Kinderheim lag.
„Entschuldigen Sie bitte, Mr Aspinall?“, erklang eine zaghafte Stimme aus dem schmalen Gang zwischen der Meldebehörde und dem nächsten Gebäude.
Als Quinn sich umdrehte, sah er die junge Frau von eben. Sie kam einen Schritt näher, ohne jedoch dabei völlig auf den Bürgersteig zu treten. Wortlos und mit dringendem Blick streckte sie ihm ein Stück Papier entgegen.
Er ging auf sie zu, verbarg damit die Sicht auf sie und nahm den Zettel entgegen.
„Ich muss jetzt schnell zurück, bevor man mich vermisst“, sagte sie. „Aber ich dachte, das könnte Ihnen bei Ihrer Suche helfen.“ Dann drehte sie sich um und wollte zurückeilen, doch Quinn hielt sie sanft am Arm fest.
„Warten Sie. Woher …?“
„Es gab nur drei Kinder mit dem Namen Aspinall. Das war also nicht schwer“, erwiderte sie und zog ihren Schal etwas enger um die Schultern.