Briefe von Toni. Frank Bresching

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Briefe von Toni - Frank Bresching

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sondern eine Glück bringende und am Ende auch grauenvolle Wirklichkeit.

      Im Frühjahr letzten Jahres brauchte es nur ein einziges Telefonat, um mich in diese Wirklichkeit zurückkehren zu lassen. Es war Margarethe Stettnich, die mich anrief. Sie sagte, dass sie erst kürzlich mein letztes Buch gelesen und überall verbreitet habe, dass sie vor langer Zeit mit mir unter einem Dach gelebt hatte. Mit einem heute bekannten Schriftsteller, das hätte sie damals nicht für möglich gehalten. Während ich im Arbeitszimmer stand, den Hörer fest ans Ohr gedrückt und den Blick durch die Fensterscheiben auf die Grenzmauer meines Grundstücks gerichtet, hörte ich zu, ohne sie zu unterbrechen. Anfangs zaghaft, beinahe verlegen, redete sie im Laufe des Telefonats immer schneller und bekannte, alle meine Romane gelesen zu haben, die seichten genauso wie die tiefgründigen. Romane über Schicksale in der Nachkriegszeit, über Liebe und Verzweiflung, über unerfüllbares Verlangen und unwillkommene Verwirrungen. Als sie bemerkte, wie still ich war, wurde sie wieder zaghafter. Einen Moment lang schwieg sie, bevor sie fragte: »Hast du schon einmal darüber nachgedacht, eine Geschichte zu erzählen, die du selbst erlebt hast? Deine und Marias Geschichte? Ich könnte dir verraten, was Ilse an dem Tag gesagt hat, an dem sie starb. An dem Tag, an dem … na ja, du weißt schon … du könntest es verwenden.«

      Ich schloss die Augen. Ich wollte ihr nicht länger zuhören. Zumindest bildete ich mir ein, ihr nicht länger zuhören zu wollen. Ich bedankte mich für ihren Anruf und legte auf.

      In den nächsten Tagen und Wochen ließen mich ihre Worte jedoch nicht mehr los. Immerzu begleiteten sie mich und ständig drehten sich meine Gedanken um Maria. Um Ilse und Toni. Um Erwin. Um Wilmersdorf, unsere Straße und den Luftschutzkeller in unserem Haus.

      Zwei Monate nach dem Telefonat hielt ich es nicht mehr aus, setzte mich ins Auto und fuhr nach Berlin.

      2

       Berlin, Ende August 1939

      Ich sah Maria zum ersten Mal am Ufer des Wannsees. Sie stand nur ein paar Schritte von mir entfernt und sah mich vorwitzig an, dann blinzelte sie mir zu. Ich blickte zurück, scheu und neugierig zugleich, die feuchten Hände voller Sand. Weil das fremde Mädchen mich beobachtete, sich für mich und die Sandburg zu interessieren schien, die ich versuchte, nah am Wasser zu bauen, interessierte ich mich auch für das Mädchen. Aber im Gegensatz zu ihm hockte ich reglos da, verblüfft, wegen der ungewohnten Aufmerksamkeit, die mir zuteilwurde. Irritiert, weil ich nicht wusste, was das Mädchen von mir wollte.

      Wollte es überhaupt etwas von mir? Sah es mich überhaupt an oder durch mich hindurch, weil es mit den Gedanken anderswo war?

      Ich war mir auf einmal nicht mehr sicher. Und unsicher war ich auch, was das Alter des Mädchens betraf. Ich richtete mich auf, neigte den Kopf und betrachtete es noch genauer. Sicherlich mochte es ein wenig älter sein als ich. Vielleicht zwölf oder dreizehn, bestimmt schon längst vom Jungmädelbund aufgenommen, aber noch zu jung, um beim Bund Deutscher Mädel mitzumachen. Schmal war es, aber nicht sonderlich hübsch, wie ich fand. Dafür hatte es ein zu pausbäckiges Gesicht, das von zahllosen Sommersprossen übersät war, zu helle, fast durchscheinende Haut und zu wirres Haar, das ihm über die Schultern bis auf den Rücken fiel und sich über seiner Stirn kräuselte. Sein dunkler Badeanzug war nass, die Arme und Beine mit Tropfen benetzt, und an seinen Füßen klebte Sand. Es war noch vor kurzem im Wasser gewesen, wie die meisten anderen Kinder auch, die sich darin übertrafen, Fröhlichkeit zu verbreiten und den warmen Tag zu genießen. Aber tatsächlich war diese Unbeschwertheit getrübt. Das Lachen der Kinder war gedämpfter als sonst, ihr Spielen zurückhaltender, der Umgang miteinander behutsamer. Ein Schatten trübte ihre gewohnte Ausgelassenheit. Sie spürten die Last, die ihre Eltern trugen, und deren innere Anspannung.

      Ein heller Sonnenstrahl blendete mich. Ich legte die sandigen Hände schützend über die Augen.

      Auch ich spürte die Anspannung meiner Eltern, von der sie schon seit Tagen immer wieder heimgesucht wurden. Ich hatte Mutters nervöse Blicke wahrgenommen und ihre ungewohnte Wortkargheit erlebt, welche schwer in den Räumen unserer Wilmersdorfer Wohnung hing. Ich bemerkte Vaters Gereiztheit und hatte das Gefühl, dass er etwas verbergen wollte, was nicht zu verbergen war. Denn überall wurde darüber gesprochen, auf den Straßen, in der Schule und auf den Treffen der Pimpfe des Deutschen Jungvolks. Auch wenn ich nicht alles verstand, was der Fähnleinführer uns eindringlich zu erklären versuchte, begriff ich zumindest, dass sich die Spannungen zwischen dem Deutschen Reich und Polen in den letzten Tagen zunehmend verschärft hatten. Hitler drohte damit, bei der nächsten polnischen Provokation zu handeln.

      »Ein Feldzug liegt in der Luft«, hatte der Fähnleinführer uns mit unverhohlener Dramatik in der Stimme klargemacht. »Schon bald entscheidet sich, ob und wann der Führer zuschlagen wird. Aber egal, wie er sich entscheidet, wir werden ihm folgen.«

      Die Sätze beunruhigten mich. Ohne es laut auszusprechen, fragte ich mich, wieso man sich für Krieg statt für Frieden entscheiden könne. Ich hatte Vaters Worte im Kopf, dass ein bewaffneter Kampf, und nichts anderes bedeutete doch ein Feldzug gegen Polen, immer Verluste mit sich bringe. Aber genauso wie die Parolen des Fähnleinführers beunruhigte mich, dass meine Eltern bei jeder Gelegenheit den kratzigen Stimmen des Großdeutschen Rundfunks lauschten. In letzter Zeit saßen sie schon frühmorgens vor dem nussbraunen Radio. Mutter biss sich auf die Lippen und rieb die Daumen an den Zeigefingern. Ihre Nervosität hing greifbar im Raum. Vater saß stocksteif da, ohne jede Regung, und manchmal befürchtete ich, er könnte das Atmen eingestellt haben. Sie warteten auf die Ansprache des Führers. Auf eine Entscheidung. Darum konnten sie auch diesen warmen Tag nicht genießen, den wolkenlosen Himmel nicht und nicht den See, der im Licht der Sonne silbergrau schimmerte.

      Meine Eltern hatten keine Freude am Baden. Ich schaute mich um. Kein Erwachsener war im Wasser, auch das beunruhigte mich, denn das Wasser war weder zu kalt noch zu warm.

      Eine Möwe flog dicht über meinen Kopf hinweg und riss mich aus den Gedanken. Sie kreischte schrill, als sei sie in Panik und auf der Flucht. Ich zuckte heftig zusammen. Das Mädchen lachte augenblicklich los, und die Möwe verschwand so plötzlich im Sonnenlicht, dass ich nicht hätte sagen können, wo und ob sie überhaupt noch einmal auftauchen würde. Ich schüttelte den Kopf und fühlte mich unbehaglich, weil ich nicht wusste, ob das Mädchen mich an- oder auslachte. Als sein Lachen abebbte und schließlich ganz verstummte, war ich erleichtert. Seine blonden Wimpern flatterten. Dann zuckte es mit den Schultern und winkte mir zu, obwohl es doch so nah bei mir stand und ein Winken deshalb eher komisch als freundlich wirkte. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass das Mädchen genauso unsicher war wie ich. Jetzt musste ich lachen. Es war ein Lachen, das mir heftig und unaufhaltsam aus der Kehle sprudelte. Ich trat zwei Schritte auf das Mädchen zu und winkte zurück.

      Das Mädchen schnitt eine Grimasse und streckte mir die Zunge raus. Als es jedoch die Gestalt sah, die sich mir von hinten näherte, lief es unvermittelt fort. Ich drehte mich um und hielt die Luft an, als ich Vaters nachdenklichen Blick bemerkte, der vom Badetuch aufgestanden war und nach Osten starrte, als ahnte er von dort eine Gefahr.

      Lag Polen im Osten? Ich überlegte. Polen lag im Osten, ganz sicher.

      Was, wenn die Polen wieder provozierten? Was, wenn sie die Worte des Führers nicht ernst nahmen? Müsste Vater, gemeinsam mit den anderen Soldaten, die Provokationen beenden? Vater war bestimmt einer der kräftigsten von ihnen, er war breit gebaut, hatte starke Arme, ein kantiges Gesicht und leuchtendblaue Augen – ein Mann, der andere mit seiner Erscheinung beeindruckte und in Uniform sogar noch imposanter wirkte als üblich. Dennoch trug er sie nicht gerne, wenngleich er sie in jüngster Zeit häufiger anziehen musste. Er sei ein Schreiner, kein Soldat. Er stelle Dinge her und wolle keine Dinge zerstören. Ich glaubte ihm, denn wenn er die Uniform und die braunen Stiefel trug, war sein Gang schwerfälliger als sonst, fast schleppend, der Klang seiner

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