Briefe von Toni. Frank Bresching

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Briefe von Toni - Frank Bresching

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wissen, um Erleichterung zu empfinden, weil ich nicht fähig war, David gering zu schätzen oder gar zu verabscheuen. Ich sah in ihm einen netten, wenn auch wortkargen Burschen, der sich von Anfang an alle Mühe gab, unsichtbar zu sein. Doch weil er jüdisch war, war er sichtbar. Von einigen Schülern wurde er gemieden, von anderen getreten und hin und wieder auch geschlagen. Und niemand stand ihm bei, auch ich nicht. Ich gehörte zu denen, die sich bereitwillig den Normen des Viertels und der Schule fügten. Und dazu passte es keinesfalls, sich für einen Juden einzusetzen, auch dann nicht, wenn ihm ein anderer Junge mit einem Messer einen Davidstern in die Brust ritzte.

      An jenem Tag, kurz vor Weihnachten im Jahr 1937, war die Luft besonders frostig. Der in der Nacht gefallene Schnee glänzte auf den Bäumen und Dächern, und der undurchlässig graue Himmel versprach noch mehr Niederschlag, worüber ich mich freute. Mir gefiel es, wenn es schneite. Ich war vergnügt, wenn die Straßen aussahen, als wären sie mit Puderzucker bedeckt, meine Schritte frische Abdrücke im Schnee hinterließen und ich Eiszapfen von den Vordächern abbrechen und in den Mund stecken konnte, um die Kälte auf der Zunge zu spüren. Aber die größte Freude bereitete es mir, wenn der Schnee in dicken Flocken fiel und diese leise im Wind gegen die Fenster unseres Klassenzimmers stießen, als würden sie um Einlass bitten. Dann stellte ich mir vor, wie schön es jetzt sein müsse, in einem gemütlichen Raum am Feuer zu sitzen, das in einem Kamin flackerte, und von dort aus zu beobachten, wie die Welt draußen immer weißer wurde, bis das Weiß in den Augen brannte.

      Als der Gong das Ende des Unterrichts verkündete, packten wir hastig unsere Schulsachen und eilten aus dem Gebäude, um vor dem schmiedeeisernen Tor der Schule eine Schneeballschlacht zu beginnen. Ein Haufen Schüler, die mit lautstarkem Gejohle einander jagten, sich mit Schneebällen bewarfen, jubelten, wenn sie trafen, und fluchten, wenn sie getroffen wurden. Manche zankten sich, nur um kurz darauf wieder zusammenzustehen und sich zu versöhnen. Die Luft war erfüllt von heiterem Lachen und Geschrei. Aber das Treiben dauerte nicht lange. Unsere Hosen, Jacken und Handschuhe waren bald schon nass. Schnell sehnten wir uns nach Wärme und fingen an, unsere vor Kälte schmerzenden Gesichter zu reiben. Vielleicht war ich nasser als die anderen und sehnte mich noch mehr als die anderen nach Wärme und war deshalb der Erste, der sich verabschiedete. Aber gerade, als ich mich auf den Heimweg machen wollte, sah ich in der Ferne eine Gestalt, die mit hängenden Schultern davonging. Es war David, ohne jeden Zweifel. Er hatte sich der Schneeballschlacht entzogen. Wieder einmal war er bemüht gewesen, jeder Aufmerksamkeit zu entgehen. Er wollte unauffällig verschwinden, doch zwei größere Gestalten verfolgten ihn. Mir wurde flau im Magen, als ich in ihnen die Oberschüler Erwin Kroschke und Franz Ziegler erkannte.

      Erwin stammte aus einer wohlhabenden Metzgerfamilie, die etliche Geschäfte in mehreren Berliner Bezirken betrieb und einige Straßen von uns entfernt in einem imposanten Haus inmitten eines gepflegten Parks mit verschlungenen Wegen und einem großen Fischteich lebte. Wenn man den Gerüchten glauben durfte, zählten Erwins Eltern Mitglieder der obersten Parteiführung zu ihrer Kundschaft, und manch einer flüsterte, sie würden sogar die Reichskanzlei in der Wilhelmstraße mit Fleisch beliefern. Außerdem gab es unter den Kindern das Gerücht, dass der Metzgersohn nie ohne sein Schweizer Messer mit Griffschalen aus geschwärztem Eichenholz das Haus verließ. Er trüge es immer in seiner rechten Hosentasche, jederzeit bereit, anderen, vor allem jüngeren Kindern, furchtbare Angst einzujagen, indem er es vor ihnen aufklappte und mit der Klinge wild durch die Luft schnitt, als handelte es sich bei dem Messer um einen Degen. Erwin war zwei Jahre älter als ich, ein unberechenbarer Junge, dem ich möglichst aus dem Weg ging, wenn er durch die Straßen schlenderte, fortwährend auf der Suche nach einer Gelegenheit, seine Stärke und Unerbittlichkeit zu demonstrieren. Manchmal fand er sie, manchmal auch nicht.

      An diesem Tag fand er sie. Ich beobachtete, wie er und Franz losliefen, bis sie David, der die Gefahr zu spät erkannt und deshalb auch zu spät zu fliehen begonnen hatte, in Höhe eines Pritschenwagens stellten. Sie blieben vor dem Jungen stehen und bauten sich bedrohlich vor ihm auf. Inzwischen hatten sich mehrere Klassenkameraden zu mir gesellt, und als auch sie begriffen, was sich in einiger Entfernung zutrug, rannten sie in der Erwartung los, dass Erwin ein Opfer gefunden hatte und zumindest heute alle anderen in Ruhe lassen würde. Niemand wollte ein mögliches Spektakel verpassen. Ohne zu überlegen, lief ich mit.

      Im Nachhinein habe mich gefragt, was geschehen wäre, wenn wir ignoriert hätten, was am anderen Ende der Straße geschah. Ich habe mich gefragt, ob wir Erwin durch unser Erscheinen erst zum Handeln motivierten, ob er sich durch unser Auftauchen verführen ließ, wie sich ein Athlet verführen lässt, den Jubel und Applaus im Stadion zur Bestleistung tragen. Vielleicht hätte der Metzgersohn den jüdischen Jungen nur bedroht, ihn aber nicht verletzt und gedemütigt, wenn wir dem Geschehen ferngeblieben wären.

      Nachdem wir die drei Jungs erreicht hatten, bildeten wir einen Kreis um sie, ohne uns bewusst zu sein, dass wir David auf diese Weise jede Fluchtmöglichkeit raubten.

      Erwin legte den Kopf schräg, musterte sein Opfer und setzte ein breites Grinsen auf. »Ich habe gehört, du heißt David. Stimmt das? Heißt du wirklich so wie der Schafhirte, der den Riesen besiegt hat?«

      Obschon David erschrocken und ängstlich wirkte, nickte er und sagte leise: »Ja, so heiße ich …«

      »David wurde zum König gekrönt, nachdem er den Riesen getötet hatte, richtig?« Erwin kannte Davids Namen, er kannte die Geschichte von dem Schafhirten, der den Riesen besiegt hatte, und er wusste, dass dieser einst König der Israeliten gewesen war. Plötzlich verstand ich. Alle verstanden es. David schaute Erwin an, mit flehenden Augen. Lass mich in Ruhe, sagten diese Augen. Lass mich bitte in Ruhe, ich bin kein mutiger Hirte, ich bin nur ein verängstigtes Schaf auf dem Weg nach Hause …

      »Du musst stolz sein, den Namen eines Königs zu tragen«, sagte Erwin und verzog abermals den Mund zu einem herablassenden Grinsen. »Ich wäre stolz darauf.«

      »Ich … nein …«, stotterte David.

      »Nein? Du bist nicht stolz darauf? Du bist nicht stolz, einen Namen zu tragen wie ein jüdischer König? Bist du etwa auch nicht stolz darauf, ein Jude zu sein?« Erwin tat überrascht. Er schob seine Hand in die rechte Hosentasche. Ich hielt die Luft an, weil ich ahnte, was sich darin befand. »Der Riese, verflucht, wie hieß der Riese noch mal? Weißt du es noch?«

      »Goliath«, stieß David hervor. »Der Riese hieß Goliath.«

      »Goliath, richtig. Könntest du einen Riesen wie Goliath besiegen, David?« Erwin ließ nicht locker. »Ihn töten?«

      David schüttelte den Kopf. »Nein, ich könnte keinen Riesen besiegen …«

      »Und wenn ich Goliath wäre? Glaubst du, du könntest mich besiegen?«

      David schüttelte abermals den Kopf, dieses Mal noch heftiger.

      »Du bist feige, David. Dein Volk ist feige, und das ist schlecht für dich und alle Juden.« Erwin zückte das Messer und klappte es auf. Dann leckte er mit der Zunge über die scharfe Klinge. Franz lachte schallend los.

      Davids Gesicht wurde blass, auf seinen Wangen bildeten sich rote Flecken, und aus seinem Mund kam ein pfeifender Ton.

      Ich biss auf meine Lippen und rieb die Daumen mit den Zeigefingern, wie Mutter es tat, wenn sie dem Radiosprecher lauschte. Ich litt mit David, aber ich war voller Angst, und deshalb nicht fähig, einzugreifen. Mein Herz sandte ein Signal aus, dass ich Mut aufbringen, das Richtige tun und dem Unterlegenen beistehen sollte, aber mein Verstand wies das Herz zurück, weil Mut allein nicht ausreichen und der eigene, zu erwartende Schmerz ein Eingreifen nicht verzeihen würde. Ich war stark, aber sicher nicht stark genug, um Erwin entgegenzutreten. Also sah ich mit aufgerissenen Augen und halb offenem Mund zu und klammerte mich an dem fest, was Mutter mir eingebläut hatte: Ich hasse sie nicht, und du musst sie auch nicht hassen, aber du darfst niemandem

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