Briefe von Toni. Frank Bresching
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Ich mochte das Lied, die Sehnsucht in Mutters Stimme, die wehmütige Melodie darin. Aber heute war ich irritiert. Etwas an Mutters Verhalten erschien mir unermesslich falsch. Ich wollte ihr nicht länger zuschauen und zuhören. Noch war ich mit meinen Aufgaben nicht fertig. Also beeilte ich mich. Obwohl es mir schwerfiel, mich zu konzentrieren, erledigte ich meine Pflichten, bis ich mit den Ergebnissen zufrieden war. Danach packte ich die Schulsachen in den Ranzen und huschte an Mutter vorbei, ohne dass sie es bemerkte. Sie war mit den Gedanken ganz woanders. Kochte und sang noch immer voller Leidenschaft.
In meinem Zimmer setzte ich mich aufs Bett, neigte den Kopf und faltete die Hände zum Gebet. Zunächst zauderte ich, als gäbe das Zaudern meinem Anliegen eine noch größere Bedeutung, aber nach einigen Minuten brach es aus mir heraus, und ich betete voller Inbrunst, Polen möge geschwind besiegt und der Feldzug in Kürze beendet sein. Betete, Mutters Hoffen möge den Weg in Gottes Herz finden und der Vater schon bald heimkehren. Ich betete so lange, bis der Geruch nach gekochten Bohnen und Kartoffeln in mein Zimmer zog und Mutter mich zum Essen rief.
Dass Mutter schon am Nachmittag statt am Abend kochte, blieb eine Ausnahme und war einzig der Nachricht von den beginnenden Kriegshandlungen geschuldet, die sie mehr verstörte, als sie es mir gegenüber zugeben wollte. In den nächsten Tagen und Wochen vermied sie es jedoch wieder, die Abläufe unseres Alltags zu verändern. Sie suchte und fand Zuversicht im Üblichen, hielt die Wohnung mit der gewohnten Sorgfalt sauber, schrubbte wie immer täglich die Böden und staubte die Möbel mit jenem Pflichteifer ab, den ich schon früher als übertrieben empfunden hatte. Sie änderte auch nichts an dem zweitägigen Rhythmus, in dem sie unsere Kleidung wusch oder an der Gepflogenheit, mir jeden Morgen ein Butterbrot zu streichen und ein Glas Milch einzugießen, damit ich nicht mit leerem Magen zur Schule ging. Sie war es auch, die stets von mir forderte, meine Hausaufgaben verantwortungsbewusst zu erledigen und die Heimabende der Pimpfe zu besuchen, an denen wir zu exerzieren lernten und Kenntnisse über die deutsche Geschichte und Rassenlehre vermittelt bekamen. An einem Wochenende fuhr ich mit der Gruppe zu einem Jugendtreffen in ein Waldstück nahe Potsdam, um an einer Geländeübung teilzunehmen. Dort wurde uns beigebracht, wie man mit einem Luftdruckgewehr schoss, mit dem Kompass umging und Befehle befolgte, ohne deren Sinn zu hinterfragen. Wer es dennoch tat, tat es im Stillen.
In dieser Zeit sinnierte ich häufig darüber, wo Vater jetzt war und welche Aufgaben er zu erfüllen hatte. Ich malte mir aus, welche Gefahren ihn bedrohten, wie er sich ihnen stellte oder ihnen entkam. In meiner Fantasie sah ich ihn mit seinen Kameraden in geordneten Reihen durch niedergebrannte Städte und Dörfer marschieren, die steinernen Trümmerwüsten glichen; er war aufmerksam und bereit, jeden gegnerischen Angriff mit seinem Gewehr zu beantworten. Andere Male sah ich ihn über ein Schlachtfeld laufen und den Geschossen der polnischen Artillerie ausweichen. Oder ich stellte mir vor, wie er in einem Schützengraben lag und nach dem Feind Ausschau hielt, der nur wenige Meter entfernt im finsteren Unterholz lauerte. Aber egal, welcher Vorstellung ich mich hingab, stets spürte ich die Angst, die mit Eiseskälte in meinem Körper aufstieg.
Als der Postbote endlich einen Brief von Vater brachte, lief ich zu Mutter, aufgeregt und in freudiger Erwartung. Sie rutschte noch im Flur mit dem Rücken an der Wand hinab, öffnete den Umschlag, und wie es ihre Art vorzulesen war, hielt sie den Brief dicht vor die Augen, während ihre Finger über die Schriftzeichen glitten, als wollten sie jeden Buchstaben nachzeichnen. Sie hastete über die Zeilen, blieb an der einen oder anderen Stelle hängen und wurde dann wieder schneller, um voranzukommen und auch noch die letzte Information vor sich hin zu flüstern. Was Vater schrieb, machte uns glücklich. Er betonte, er sei wohlauf und wünsche sich von Herzen, dass es auch uns gut ergehe. Wo er war und was er machte, durfte er uns nicht mitteilen, aber das dämpfte unsere Freude nicht. Er lebte und klang hoffnungsvoll, daran hielten wir uns fest. Den Brief legte Mutter in die oberste Schublade seines Sekretärs, den er noch im vergangenen Sommer selbst restauriert hatte. Und weil uns in den nächsten Tagen keine Post mehr von ihm erreichte, holte sie das wertvolle Papier immer wieder hervor, wenn ihr danach zumute war, es erneut zu lesen. Einmal fand ich sie am Morgen in der Küche stehend, Vaters Brief in beiden Händen haltend und darin versunken, als erkenne sie in den akkurat und in schwarzer Tinte verfassten Zeilen einen neuen Sinn, der ihr zuvor entgangen war.
Wie sehr sie doch auf neue Post von ihm hoffte! Und wie schwer ihr Herz wurde, als ihr Wunsch jeden Tag aufs Neue unerfüllt blieb.
Ich entsinne mich noch mit einer Klarheit an jenen Mittag, an dem ich von seinem Tod erfuhr, als wäre es erst gestern gewesen. Es war der 21. September 1939, ein gewöhnlicher Donnerstag, an dem ich, vom Unterricht und dem übertriebenen Drill unseres Sportlehrers erschöpft, nach Hause kam. Das Hemd klebte an meinem verschwitzten Rücken, der raue Stoff der Jacke rieb in meinem Nacken. Ich fühlte mich unbehaglich. Im dämmrigen Treppenhaus mit den schmutziggrauen Wänden und den abgenutzten Dielen war es bereits kühl, ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich der Sommer zu verabschieden drohte.
Ich schloss die Wohnungstür auf und trat ein. Aber nicht Mutter empfing mich im Flur, sondern Herr Tremmel. Dass er die offizielle Uniform des Blockleiters trug, mit etlichen Ordensschlaufen auf der Brust, vergoldeten Knöpfen, auf denen der Hoheitsadler der Partei prangte, und einer Hakenkreuz-Binde am Arm, machte mich genauso misstrauisch wie sein Erscheinen in unserer Wohnung. Vater bezeichnete ihn gerne als Schnüffelhund oder Treppenterrier, der nur dann auftauchte, wenn er den Verdacht hegte, dass etwas nicht stimmte.
Ich fragte mich, in welchen Verdacht wir geraten waren. Kontrollierte Herr Tremmel etwa, ob wir auch eine Hakenkreuzfahne besaßen? Welches Rundfunkgerät sich in unserer Wohnung befand?
Mein Hals wurde eng, als er mich mit finsterer Miene ansah, bevor er ein entschlossenes »Heil Hitler« herausbrachte.
Ich erwiderte den Gruß mit wenig Enthusiasmus. Meine Kehle schnürte sich weiter zu. Ich hatte Angst, sagte mir aber, ich müsse mich nicht ängstigen.
»Tritt ein, Hans! Wir haben auf dich gewartet. Deine Mutter muss dir was sagen.« Herr Tremmel machte Platz, und ich schlüpfte in die Wohnung. Jacken und Mäntel hingen wie üblich an der Garderobe. Mutters Hüte lagen auf der hölzernen Ablage darüber. Die Schuhe standen aufgereiht im Flur. Alles war wie immer. Was um Himmels willen wollte Tremmel also von uns?
Ich schaute mich um, sah Mutter im Esszimmer am Tisch sitzen und erschrak. Helles Tageslicht fiel durch das Fenster auf ihr blasses Gesicht mit den geröteten Augen. Auf ihrer tränennassen Wange klebten zwei Locken, ihre Zähne hatten sich in der Unterlippe verbissen, und ihr Kinn zitterte. Sie hielt ein weißes Tuch in den Händen. Nichts erinnerte mehr an den Optimismus, der all ihr Tun in den letzten Wochen geprägt hatte. In ihren Zügen erkannte ich nur noch tiefe Traurigkeit und Ermattung.
Ich blieb stehen. Mutter starrte auf die Tischplatte, statt mich anzusehen.
»Mutter?«, sagte ich, erfüllt vom Wunsch, dass sich ihre Gesichtszüge erhellten, dass sie mich zu sich winkte und wie so oft in den letzten Tagen erklärte, ich solle mir keine Sorgen machen, alles würde sich finden.
»Mutter?«
Sie stöhnte. Ihre Zähne lösten sich von der Unterlippe. »Hänschen … o mein Hänschen …«, flüsterte sie. »Dein Vater … dein Vater …«
Der Boden unter mir gab nach, ich schwankte und ließ die Tasche los, die ich die ganze Zeit festgehalten hatte. »Was ist mit ihm, Mutter? Was ist mit Vater? Geht es ihm nicht gut?«, fragte ich erschrocken.
»Dein Vater …« Sie stockte, rang nach Luft und drohte, in sich zusammenzusacken. Und dann, nach einem scharfen Atemholen, brachte sie es heraus: »Hänschen,