Briefe von Toni. Frank Bresching
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»Hänschen, mein hübscher Junge«, sagte sie zärtlich.
Ich war erleichtert. Sie strich mir über den Kopf. »Mein hübscher, großer Junge.«
Gewiss war ich in ihren Augen schon recht groß, aber nur, weil sie mich groß sehen wollte. Ich ließ sie gewähren, obwohl ich es besser wusste. Jeder Hinweis darauf, dass ich in meiner Klasse zu den Kleinsten zählte, wäre sinnlos gewesen. Letztlich war ohnehin nur wichtig, was Mutter glaubte.
Aber trotz meines Mangels an Größe meinte es die Natur offenbar gut mit mir, glich sie diesen Makel doch aus, indem sie mich mit den breiten Schultern und kräftigen Armen meines Vaters, einem schönen Gesicht und blondem, dicht gewachsenem Haar bedacht hatte. Meine braunen Augen waren die Augen meiner Mutter, sie blickten warm und freundlich. Dass mein Profil eine ähnliche Schärfe wie die des Jägers auf dem gusseisernen Bild in unserem Esszimmer besaß, lag an meinen ausgeprägten Wangenknochen, dem spitzen Kinn und der Nase mit dem geraden Rücken.
Viele mochten mein Gesicht, das bekam ich oft zu hören. Auch von meiner Lehrerin und Frau Schöneweck, die Besitzerin der kleinen Bäckerei in unserer Straße. Während die Lehrerin es nur verhalten andeutete, wurde Frau Schöneweck deutlicher.
»Herrgott, Hans, dein Aussehen ist ein Geschenk unseres Schöpfers. Wirst sehen, schon bald werden die Mädchen dir nachstellen. Und ein Seufzen wird durch ihre Reihen gehen, wenn sie dich nur anschauen«, sagte sie jedes Mal, wenn ich samstags bei ihr im Laden auftauchte und Schrippen kaufte.
Ich nahm das Gesagte eher verlegen als stolz hin. Stolz war ich nur, wenn ich Vater gefiel. Eines Abends, als ich durch die Küche in mein Zimmer ging, hörte ich ihn mit Mutter im Esszimmer reden. Ich presste mein Ohr an die geschlossene Tür und lauschte. Was ich vernahm, beseelte und wärmte mich. Mit gedämpfter Stimme sagte Vater, dass ich ein kühnes Gesicht mit scharf geschnittenen, klaren Linien habe, die nicht einmal der begnadetste Künstler besser hätte zeichnen können. Es sei das Gesicht seines Vaters Hagen, der im ersten Weltkrieg gefallen war. Außerdem sei er froh, dass ich auch charakterlich gut geraten sei, ein Junge, der leicht erlernen würde, dass ein Mann alles, was er beginne, mit Würde und Anstand erledigen müsse. Am Schluss dankte er Mutter, dass sie ihm einen so prächtigen Sohn geschenkt habe.
Als ich an diesem Morgen mit dem Schulranzen auf dem Rücken vor unserem Haus stand, um mich auf den Weg in die Mittelschule zu machen, kamen mir Vaters Worte noch einmal in den Sinn. Doch dieses Mal begeisterten sie mich nicht. Stattdessen spürte ich einen Kloß im Hals. Ich schaute noch einmal in den zweiten Stock hinauf. Mutter stand am Küchenfenster und hob die Hand, was ihr sichtlich schwerer fiel als all die Tage und Wochen zuvor.
Bevor ich mich abwandte, erwiderte ich ihren Gruß und bemühte mich um ein aufmunterndes Lächeln.
Natürlich war das schnörkellose Gebäude mit der grauen Fassade und dem aus Eisen gegossenen Relief über der Haustür, auf dem das Baujahr mit 1867 angegeben wurde, nicht unser Haus, auch wenn ich es immer als unser Haus bezeichnete. Wir wohnten nur darin. Und mit uns noch andere Mieter. Im Parterre lebten die Zwillingsschwestern Margarethe und Ilse mit deren Mann Toni; alle drei waren noch recht jung, hatten die zwanzig erst kürzlich überschritten. Ilse war blind, ob von Geburt an oder ob eine Krankheit, vielleicht sogar ein Unfall ihr das Augenlicht geraubt hatte, wusste ich nicht. Ich erinnere mich allerdings noch genau, wie sehr mich ihre milchigen Augen faszinierten. Gleich, wo ich ihr begegnete, im Treppenhaus, im Hinterhof oder auf der Straße, immer suchte ich ihren Blick, der im Nirgendwo zu schweben schien. Aber trotz ihrer Behinderung wirkte Ilse mit ihrem aufreizenden Gang, den schönen Hüten und farbenfrohen Kleidern aus dünnem Stoff, die sie bei jedem Wetter trug, liebreizender und lebendiger als ihre Schwester, um deren dünne Beine stets nur dunkle Röcke flatterten und die ihren Rücken immer ein wenig krümmte, als wolle sie keine Blicke auf ihre großen Brüste ziehen. Margarethe wirkte unauffällig und spröde, wie eine Blume kurz vor dem Verwelken. Dann war da noch Frau Buchner, eine ältere Frau mit strenger Miene, die über uns lebte. Sie verließ ihre Wohnung nur, wenn sie es musste, weshalb ich sie selten zu Gesicht bekam. Ganz im Gegensatz zu unserem glatzköpfigen Blockleiter, der unterm Dach wohnte und stets geschäftig war, weil er keine Versammlung, keine Aktivität seiner Partei in unserem Viertel verpassen wollte. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit demonstrierte Herr Tremmel seine Begeisterung für die politische Entwicklung in unserem Land, indem er die Hacken fest zusammenschlug, den rechten Arm mit flacher Hand auf Augenhöhe schräg nach oben riss und mit funkelnden Augen den deutschen Gruß zelebrierte, in heller Vorfreude auf dessen prompte Erwiderung.
Aber ich habe nicht nur das Haus als unser Haus bezeichnet, ich habe auch die Schreinerei im Hinterhof, in der Vater arbeitete, immer als unsere Schreinerei, die Straße, in der wir lebten, als unsere Straße und das Wohngebiet in Wilmersdorf als unser Viertel bezeichnet. Das war meine Welt, zu der auch mein Schulweg gehörte, der durch unseren Bezirk mit seinen prächtigen Kastanienbäumen und den gepflegten Mehrfamilienhäusern auf beiden Seiten der Straßen führte, vorbei an Frau Schönewecks Bäckerei, dem Gemüsegeschäft an der Ecke und der zerstörten Synagoge in der Prinzregentenstraße, die mit ihrem einst runden, überkuppelten Zentralbau eines der auffälligsten Gebäude in unserem Stadtteil gewesen war. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 hatte sie gebrannt, wie die Synagoge in der Franzensbader Straße und der jüdische Friedenstempel in der Markgraf-Albrecht-Straße auch. Ihre Überreste waren nicht beseitigt worden, die Fragmente der Grundmauern standen noch da wie ein drohender Fingerzeig, eine dunkle Prophezeiung, dass die inzwischen zum Alltag gehörenden Übergriffe auf Juden noch lange nicht enden sollten. An jedem Morgen, an dem ich die Ruine passierte, machte mich ihr Anblick traurig; sie verursachte eine seltsame Melancholie in mir, als spürte ich das Unrecht ihrer Zerstörung, das in den vom Brand geschwärzten Steinen einen stillen Ausdruck fand. Stets erinnerte ich mich daran, wie die Flammen aus dem Gebäude geschlagen waren und graue Rauchschwaden den Nachthimmel vernebelt hatten. Dann tat ich mich schwer, den Weg zur Schule fortzusetzen und mich nicht in meinen Gedanken zu verlieren. Ich versuchte, mir vorzustellen, was die Juden angesichts ihres zerstörten Bethauses fühlen mochten.
In Wilmersdorf lebten viele von ihnen. Ich glaube, mich erinnern zu können, dass es damals hieß, unser Stadtteil habe den höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil aller Berliner Bezirke. Es gab einen jüdischen Sportplatz in der Nähe des Bahnhofs Grunewald und einige jüdische Privatschulen, die jedoch wegen Überfüllung nicht alle Anmeldungen berücksichtigen konnten, weshalb auch in unserer Klasse ein jüdischer Junge saß.
Als David eines Tages nicht mehr zum Unterricht erschien, fragten wir unsere Lehrerin mit gebotener Zurückhaltung, warum er nicht mehr komme. Frau Friedrich antwortete, dass es jüdischen Kindern nun endlich nicht mehr erlaubt sei, die öffentlichen Schulen zu besuchen. Sie beugte sich verschwörerisch nach vorne. Der Jude sei von Beginn an unser geschichtlicher Feind gewesen, körperlich und geistig von Eigenschaften bestimmt, die uns völlig fremd seien. Die Trennung wäre ein weiterer und bedeutsamer Schritt, um die jüdische Rasse in letzter Konsequenz aus unserem Volkskörper auszuscheiden. Wie Kot, fügte sie grinsend hinzu. Das war im selben Jahr, in dem die Synagogen brannten, als das Leben Juden zunehmend schwieriger wurde und man immer mehr von ihnen zur polnischen Grenze brachte.
Ich begriff nicht, was sie angestellt haben sollten, dass wir sie derart verabscheuen mussten. Auch hatte ich bei David keine fremden Eigenschaften erkannt, er hatte einen völlig normalen Eindruck gemacht. Dennoch stellte ich Frau Friedrich keine weiteren Fragen, sondern schwieg, wie alle anderen auch.
»Ich hasse sie nicht, und du musst sie auch nicht hassen, aber du darfst niemandem erzählen oder durch Taten zeigen, dass wir sie nicht hassen«, erklärte Mutter mir, als ich sie einmal fragte,