Briefe von Toni. Frank Bresching
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Mutter hielt sich das Tuch vor den Mund und schluchzte auf, ein würgender Laut, der voller Leid war, eine Dissonanz, die in meinen Ohren dröhnte.
Ich schüttelte den Kopf. Mir wurde übel. Ich öffnete den Mund. Schrie ohne Ton und weinte lautlos, ohne Wimmern, während sich das Bild von Mutter verdoppelte, dann vervielfältigte, bevor es endgültig verschwamm. Eine Zeitlang vermochten weder sie noch Herr Tremmel oder ich etwas zu sagen. Erklärungen waren in diesem Moment nicht möglich und überflüssig. Die Welt erstarrte.
Es war Mutters Stimme, welche die Stille zerriss, irgendwann und irgendwo im zähen Nebel, schrill, fast hysterisch und sich vergewissernd. »Hänschen, hast du mich verstanden? Hänschen, hörst du mich?«
Ich konnte nicht antworten.
»Dein Vater ist gefallen. Er ist tot. Tot. Tot. Verstehst du denn nicht? Er kommt nie wieder. Nie wieder kommt er zurück zu uns …! Mein Hänschen, sag doch was …« Da war so viel Leid in ihrer Stimme, zu viel Leid.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Herr Tremmel. Auch er fing wieder zu reden an, doch seine Parolen drangen wie aus einem anderen Raum zu mir, dumpf, fern. Er sprach von meinem Vater als heroischem Krieger, der an der Bzura nahe der Stadt Kutno gekämpft habe, wo sich die polnischen Armeen Poznan und Pomorze vereint hatten, um unsere Achte Armee unter General Johannes Blaskowitz zu überraschen. Aber mit Hilfe der Vierten und der Zehnten Armee sei es gelungen, die Polen einzukreisen und vernichtend zu schlagen. Viele polnische Soldaten seien in dieser entscheidenden Schlacht getötet worden, viele von ihnen seien nun in Gefangenschaft. Auf unserer Seite habe es nur wenige Verluste gegeben.
Jeder Krieg bringt Verluste mit sich.
Herr Tremmel tätschelte meine Schulter. Ich schüttelte seine Hand ab. Er redete weiter, bezeichnete meinen Vater immer wieder als tapferen Soldaten und einen Mann der Tat. Hier, in unserem Esszimmer, galt dem Blockleiter offensichtlich nichts mehr als die eigene Erregung und Auffassung, auf die deutschen Soldaten stolz sein zu müssen, auch oder besonders auf die Gefallenen im Feld. Unsere Verzweiflung war für ihn nur der Nachhall großen Heldentums. Dafür hasste ich ihn. Und ich hasste ihn, weil er von meinem Vater sprach, als hätte er keinen Namen und mit dem Tragen der Uniform das Recht verwirkt, über das eigene Handeln, das eigene Leben zu entscheiden. Als hätte Vater der Gedanke gefallen, für das Reich zu sterben. Ich zeigte meine Verachtung, indem ich Herrn Tremmel ignorierte und dadurch zum Verstummen brachte. Als ihm das neuerliche Schweigen im Raum unerträglich wurde, verabschiedete er sich mit belanglosen Sätzen und verließ die Wohnung ohne den üblichen Gruß.
Nach einer Weile fragte ich Mutter, was wir nun tun sollten. Ich war ratlos und benommen von der Größe dessen, was geschehen war und noch geschehen würde. Das Entsetzen schnürte mir die Kehle zu. Mutter rührte sich nicht. Ich wollte, dass sie mit Stärke antwortete. Dass sie mich in ihre Arme nahm und wiegte und mir die Haare aus der Stirn wischte. Dass sie wie ein Fels war, mein Fels.
Doch sie tat nichts und war nichts.
Wieso tat sie nichts? Und warum war sie nichts?
Meine Arme und Beine wurden schwer. Auf einmal konnte ich mich nicht mehr halten und verlor das Gleichgewicht. Aber statt mich zu setzen, stürzte ich mich auf Mutter und riss sie mit dem Stuhl um. Am Boden liegend schlang ich meine Arme um ihren Körper, drückte mich an ihn, heulte voller Schmerz und forderte von ihr, etwas zu sagen, irgendetwas, das wiedergutmachen und heilen sollte, was zerstört und nicht mehr heilbar war. Ich spürte ihren Atem auf meiner Haut. Vater atmete nicht mehr. Er würde nie mehr atmen! Erst nach einer Weile reagierte Mutter und umklammerte mich so fest, wie sie konnte. Ihre Tränen vermischten sich mit meinen.
So blieben wir liegen, stundenlang, darum bemüht, die Erkenntnis über den schrecklichen Verlust einfach zu verdrängen und die Wirklichkeit von uns fernzuhalten.
Es war ein sinnloses Bemühen.
Regen klopfte unablässig auf Vaters Sarg. Ich stand neben dem aufgeschütteten Erdhaufen vor der Grube und hielt Mutters Hand, folgte aber nicht ihrem Blick ins Grab, sondern sah in die Ferne, zu den Ahornbäumen am Rand des Friedhofs, deren Kronen bereits ihr sattes Grün verloren und ein zartes Goldgelb angenommen hatten. Unter den Bäumen wirbelten Winde die herabgefallenen Blätter von moosigen Pfaden empor und trugen sie wie mit Zauberhänden über die Dornengebüsche in den Park hinter der Begräbnisstätte. Mit schwerem Herzen sog ich tief die Luft ein, die bereits eine erste Ahnung von bitterer Kälte mit sich trug. In wenigen Wochen würden die Gräber, Hecken und Bäume unter einer weißen Frostschicht erstarren. Der Gedanke, dass weder das Wetter, die Jahreszeiten noch das Leben selbst innehielten, obwohl Vater gestorben war, verunsicherte mich. Mir wurde klar, dass auch mein eigenes Leben weitergehen würde, egal, auf welche Weise.
Als die Trauergäste nacheinander mit einer kleinen Schaufel Erde vom Haufen nahmen, ins Grab schütteten und stille Andacht vor der Stätte hielten, befürchtete ich, die Beerdigung würde noch ewig dauern. So viele waren gekommen, um uns ihr Beileid auszudrücken. Freunde meiner Eltern, Hausbewohner, Nachbarn, einige Parteifunktionäre und Rolf Kistner, der Inhaber der kleinen Schreinerei in unserem Hinterhof. Sogar Erwin Kroschke, dessen Blicken ich geflissentlich auswich, und seine Eltern hatten sich auf den Weg gemacht, um meinem Vater die letzte Ehre zu erweisen. Genauso wie meine Großeltern vom Rhein, die vergeblich versuchten, Mutter zu überreden, wieder mit ihnen zu kommen.
»Du hast doch hier niemanden mehr, Lenie, nicht nur Gerhard ist gefallen, auch seine Eltern sind schon lange tot. Also, was willst du mit deinem Jungen in einer Stadt wie Berlin? Hier ist es anonym und kalt. Kommt mit uns, bei uns habt ihr es besser«, sagte Großvater ernst und fügte hinzu, es sei ein Fehler gewesen, dass Mutter in die Ferne gegangen war, nachdem sie Vater in den Goldenen Zwanzigern in Berlin kennen- und lieben gelernt hatte. Großvater bereute es schon längst, seine Tochter damals mitgenommen zu haben, um mit ihr die erste Grüne Woche in der Reichshauptstadt zu besuchen. Aber nun sollte sie ihren Fehler korrigieren und in den Schoß des elterlichen Hofs zurückkehren. Um heimatliche Gefühle in ihr zu wecken, beschrieb mir Großvater in ihrem Beisein, wie sich das landwirtschaftliche Gut im Schutz der steil aufragenden Felsabhänge des Rheinischen Schiefergebirges rund um ein historisches Bauernhaus erstreckte. Wie sich der große Fluss durch die Täler wand, vorbei am großelterlichen Anwesen, an Obstgärten, abschüssigen Weinbergen und Burgen, malerischen Dörfern mit gemütlichen Wirtschaften und Städten mit liebenswerten Menschen darin. Von dort käme Mutter und dort gehöre sie auch hin.
Aber Mutter wollte nicht zurück. »Der Hof ist schon lange nicht mehr meine Heimat. Mein Junge und ich bleiben in Berlin. Hier war Gerhard zu Hause, hier sind wir zu Hause. Du vergeudest deine Zeit mit unnützen Reden, Vater. Ich werde nie wieder an den Rhein zurückkehren«, betonte sie trotzig. Auch wenn es ihr schwerfiel, Großvaters Wunsch auszuschlagen, blieb sie standhaft. Als sie sah, wie verletzt er von ihrer Unnachgiebigkeit war, legte sie beide Arme um seinen Nacken und schaute ihn um Verständnis bittend an. »Ich muss mich doch um Gerhards Grab kümmern, Vater. Wer sollte es denn sonst tun? Und was würde aus Hänschen, wenn er seine Heimat verlöre? Der Junge vermisst seinen Vater, das ist schon genug für ihn. Mehr kann er nicht verkraften«, sagte sie sanft und fügte noch hinzu, dass sich Großvater keine Sorgen machen müsse, da uns die Kriegsrente eine ausreichende materielle Sicherheit bot.
Ich wurde nicht gefragt. Ich sagte aber auch nichts und hätte nichts gesagt, wenn ich gefragt worden wäre. Ich konnte doch nicht wissen, was gut für mich war. Schließlich war ich erst elf. Nach ein paar Tagen reisten meine Großeltern ohne uns ab.
In den Wochen nach Vaters Beerdigung suchte Mutter Trost in meiner Nähe, als betäubte meine