Briefe von Toni. Frank Bresching

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Briefe von Toni - Frank Bresching

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Zeit setzte sie alles daran, nicht völlig aus der Balance zu geraten. Zu sehen, wie sehr sie sich anstrengte, ihren Kummer niederzukämpfen und die Stunden und Tage in eine Gleichmäßigkeit zu gießen, als sei nichts Schlimmes geschehen, war für mich nur schwer zu ertragen. Ständig war sie in Bewegung. Putzte, kochte und verließ gelegentlich das Haus, um mit den zugeteilten Lebensmittelkarten Fleisch, Käse, Butter, Milch und Zucker zu besorgen. Und Marmelade. Ich liebte Marmelade. Erst später begriff ich, dass sie in Bewegung bleiben wollte, um nicht ständig nachdenken zu müssen. Sie ruhte sich erst aus, wenn ich abends nicht einschlafen konnte. Dann kam sie zu mir und blieb so lange auf meiner Bettkante sitzen, bis sie davon überzeugt war, dass ich endlich Schlaf gefunden hatte. Ihre Lippen waren schmal geworden, tiefe Falten hatten sich in ihre Stirn gegraben, sie wirkte hohlwangig und bleicher denn je. Einmal, als ich mich minutenlang in meinem Bett hin und her wälzte, sagte sie: »Frag ruhig, Hänschen. Frag ruhig!« Ich schaute sie erstaunt an. War ich derart durchschaubar für sie? Schließlich nickte ich und fragte, wie sehr sie Vater vermisse und wie sehr es ihr weh tue, dass er nie wiederkommen würde. Aber welche Antwort erhoffte ich mir? Glaubte ich denn ernsthaft, dass sie Vaters Tod schon überwunden hatte? Und das, obwohl ich doch hörte, wie sie nachts von Unruhe gepeinigt die Wohnung verließ, wenn sie glaubte, dass ich schlief. Ich meinte, sie spazierte durch die frische Luft, um einen klaren Kopf zu bekommen. Aber ich irrte mich. Irgendwann später erzählte sie mir, dass sie in diesen Nächten mit der Straßenbahn zum Friedhof fuhr, weil sie einfach nicht aufhören konnte, darüber zu sinnieren, warum Vater nun an einem Platz lag, der keinen gesunden, vor Kraft strotzenden Mann wie ihn hätte aufnehmen dürfen. Wieso er nicht besser aufgepasst hatte. Weshalb er nicht rechtzeitig geschossen und den Feind getötet hatte, bevor dieser ihn tötete. Wie sie mit ihren Zukunftssorgen und ihrer Einsamkeit fertigwerden sollte. Darüber musste sie mit Vater reden. Deshalb besuchte sie ihn. Und weil sie sich nach seiner Nähe sehnte. Stundenlang stand sie im schwachen Schein der Friedhofslaternen an seinem Grab und erzählte ihm allerhand von unserem Leben, ohne Antworten zu erhalten. Manchmal nahm sie ein Tuch aus ihrer Manteltasche, wischte Schmutz und Nässe vom Grabstein und tastete mit den Fingern den Schriftzug seines Namens und die Ziffern seines Geburts- und Todesdatums ab. Sie konnte sich kaum von diesem Ort lösen. Erst wenn ihr Kälte und Feuchtigkeit in die Glieder krochen, der Morgen zu grauen begann und sie sich an mich erinnerte, machte sie sich wieder auf den Heimweg. Und jetzt wollte ich wissen, wie sehr ihr Vater fehlte! Mit einer leichten Bewegung, die ich eher ahnte als spürte, strich sie mir über die Stirn, die Brauen und die Wangen, bevor sie mir eine Antwort ins Ohr flüsterte, die ich bis heute nicht vergessen habe. »Ich fühle mich wie ein Mensch, der unheilbar krank ist, Hänschen. Dieser Mensch weiß, dass er mit seiner Krankheit leben muss. Manchmal quält ihn der Gedanke nur, aber manchmal verzweifelt er geradezu daran. Dennoch kämpft er gegen die Qual und die Verzweiflung an und gibt sich alle Mühe, die Krankheit als Teil seines Lebens zu akzeptieren, da er weiß, dass ihm nichts anderes übrig bleibt. Auch ich versuche, gegen die Qual und die Verzweiflung anzukämpfen, Hänschen. Verstehst du? Ich versuche, stark zu sein. Weil es einen Grund dafür gibt. Und dieser Grund bist du. Denn du bist hier bei mir.« Sie zog die Knie vor die Brust und umschlang sie wie ein kleines Mädchen. Tränen funkelten in ihren Augen. Ich konnte es nicht ausstehen, wenn sie weinte. Das wusste sie. Ich drückte mein Gesicht ins Kissen. Sie stand auf. Ich hörte, wie sie mit kleinen Schritten aus dem Zimmer ging. An der Tür blieb sie noch einmal stehen und wiederholte den letzten Satz, leise und liebevoll: »Denn du bist hier bei mir.«

      Viele Wochen nach Vaters Beerdigung begann der Abschnitt, den ich nach all den Jahren als Mutters zweite Trauerphase bezeichne. Sie veränderte ihr Verhalten und entfernte sich zunehmend von dem, was sie einst ausgemacht hatte. Ständig gegen die Qual und die Verzweiflung anzukämpfen, ließ ihre Kräfte schwinden. Sie ging nur noch vor die Tür, um Lebensmittel zu besorgen. Auch nachts verließ sie die Wohnung nicht mehr. Ihre schnellen Bewegungen erlahmten. Früher hatte ich ihre Leichtigkeit immer bewundert, wenn sie mit nackten Füßen über die knarrenden Dielen unserer Wohnung gehuscht war, flott und graziös, als wäre ihr Körper gewichtslos. Mitunter hatte Vater ihr bewundernde Blicke zugeworfen und sie voller Begeisterung darum gebeten, sich in ihrem schlichten Kleid um die eigene Achse zu drehen, bis sich der Tellerrock aufbauschte und um ihre schlanken Beine flatterte. Mutter lachte herzhaft, während ich auf den Moment wartete, in dem sie zu schweben beginnen würde. Wer sich so schnell drehen konnte, konnte auch fliegen, daran hatte ich geglaubt.

      Nun litt ich darunter, dass sie ihre Leichtigkeit verlor und schwerfällig wurde. Zaghaft und grüblerisch. Dass sie plötzlich nur noch mit mir sprach, wenn sie ihre Sorgen um mich äußerte, dies allerdings in einem spitzen Ton, den ich nicht von ihr kannte. An manchen Tagen kam es vor, dass sie sich gleich mehrfach nach meinem Befinden und Verbleib erkundigte, als traute sie meinen Antworten nicht. Deine Wangen sind blass, Hänschen, wirst du etwa krank? Wenn du die Schrippen holst, kehrst du doch ohne Umwege wieder zurück, nicht wahr? Warum brauchst du nur immer so lange, bis du von der Schule nach Hause kommst? Die Fragen spiegelten ihre Befürchtungen wider, noch einen geliebten Menschen zu verlieren, sollte sie nicht gut genug aufpassen. Mich irritierten ihre Sorgen, als habe sie vergessen, dass ich ein vernünftiger, wohlerzogener Junge war, der durch den Tod des Vaters und die Erkenntnis, wie abrupt ein Leben enden konnte, ohnehin vorsichtiger, beinahe ängstlich geworden war. Diese Tage waren schlimm. Aber noch schlimmer waren die Tage, an denen sie lethargisch war und sich kaum noch regte. An denen sie am Esszimmertisch saß und wie entrückt zur Tür schaute, als träumte sie davon, dass Vater jeden Augenblick über die Schwelle treten und sie mit einem Kuss aus ihrer Starre befreien würde. Wenn ich in jenen Stunden neben ihr hockte, über meinen Hausaufgaben brütete und sie um Hilfe bat, verlor sie nie mehr als drei Sätze. Und manchmal, wenn sie mir gar nicht antwortete, wusste ich nicht, ob sie mich überhaupt hörte oder ob ihr nur die Anstrengung zu groß war, sich mit mir und meinen Aufgaben zu beschäftigen. Bisweilen schaute sie mich an, als erkenne sie mich nicht mehr und begreife nicht, dass wir zusammengehörten, woraufhin ich mich rasch zurückzog, aufs Bett legte und stundenlang der Stille in unserer Wohnung lauschte. Es kam vor, dass ich mein Zimmer an einem solchen Tag gar nicht mehr verließ, die ganze Nacht wach blieb und so lange in die Schwärze hinaus sah, bis der Morgen das Fenster mit einem trüben Grauton färbte, an den ich mich nur widerwillig gewöhnte. Er bedeckte die Tage, Wochen und Monate, in denen der Krieg immer heftiger wütete, die Begräbnisse und das Wehklagen der Eltern und Frauen über ihre gefallenen Söhne und Männer zunahmen und schließlich die ersten britischen Bombenangriffe auf Berlin erfolgten. Eine Antwort auf die vielen Attacken der deutschen Luftwaffe auf mehrere englische Städte. Um sie aus der Gefahrenzone zu bringen, wurden viele meiner Mitschüler aufs Land geschickt. Ein Teil kam bei Verwandten unter, andere verbrachten die nächsten Monate in einem von der Hitlerjugend organisierten Lager in Schlesien. Das Klassenzimmer leerte sich. Ich hatte das Gefühl, zurückgelassen zu werden und wünschte mir insgeheim, mit meinen Freunden gehen zu können. Aber natürlich konnte ich Mutter nicht ohne ihre Einwilligung verlassen. Und sie wollte nicht, dass ich fortging. Als ich sie auf die Landverschickung ansprach, reagierte sie unerwartet schroff. Die Angst, dass ihr dann niemand mehr bliebe, schien übermächtig und riss sie aus ihrer Trägheit. »Einer ist schon gegangen und kam nicht zurück, das passiert mir nicht noch einmal. Wer kann mir denn garantieren, dass du auf dem Land sicherer bist als bei mir in der Stadt? Niemand kann das!« Sie sprach laut und hektisch, als hadere sie mit ihrer Entscheidung und wisse nicht recht, ob sie das Richtige tat. »Und wenn wir doch zu den Großeltern reisen? An den Rhein? Aber nein, auch dort gibt es genügend Städte und Brücken, die zu treffen es sich lohnen würde. Niemand kann wissen, wo die nächsten Bomben fallen. Gerhard würde nicht wollen, dass wir Berlin verlassen.«

      Dass die Wohnungsbaugenossenschaft gleich nach den ersten Angriffen einen Luftschutzraum in unserem Hauskeller einrichtete, bestärkte sie in ihrer Meinung, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Indem sie mir erlaubte, zuzusehen, wie die Kellergänge mit leuchtender Farbe gestrichen wurden, was ein Zurechtfinden auch bei Dunkelheit ermöglichen sollte, ein Durchlass in die Kellerwand zum Nachbarhaus gebrochen, die Decke des ausgewählten Raums mit zwei Pfeilern und vertikalen Stützbalken verstärkt, das Fenster zugemauert und die Holztür durch eine Tür aus Stahl ausgetauscht wurde, wollte sie mir zeigen, wie sicher unser Zuhause war. Am Ende des Kellergangs standen von nun an mit Wasser gefüllte Löscheimer und Kisten mit Kerzen, Verbandsmaterial,

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