Briefe von Toni. Frank Bresching
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Ganz bestimmt mochte Vater die Uniform auch deshalb nicht, weil sie ihn schon bald von uns wegbrächte. Dann käme er nur noch selten nach Hause. Er sagte es mir gestern Abend, nachdem er sich an den Esstisch gesetzt und die Hände ineinander gefaltet hatte. Nie zuvor hatte ich einen solchen Ausdruck in Vaters Augen gesehen, so sorgenvoll und traurig. Für einen kurzen Moment ergriff mich die Ahnung, dass sich die Welt, wie ich sie bislang kannte, bald ändern würde. Kein Zweifel. Wenn Vater so verdrießlich dreinschaute, rollte etwas sehr Unheilvolles auf uns zu.
Als Mutter aus der Küche kam und den Tisch mit dem alten Porzellangeschirr eindeckte und mit zwei Messingleuchtern schmückte, sah sie mich an. Aber sie forderte mich nicht auf, ihr zu helfen, wie sie es normalerweise tat. Es machte mir nichts aus, ihr beim Eindecken zu helfen. Im Gegenteil, es war eine stille Übereinkunft zwischen uns beiden. Ich half ihr, den Tisch zu richten, und sie strich mir dafür sanft durch den blonden Schopf. Manchmal schloss sie dann die Augen, neigte sich zu mir und küsste mich auf die Stirn. Das gefiel mir. In diesem Augenblick dachte ich, dass ich nicht nur die schönste, sondern auch die liebevollste Mutter der Welt hatte.
»Bald wird es dir nicht mehr gefallen, wenn ich dir durchs Haar streiche oder dich auf die Stirn küsse«, sagte sie in letzter Zeit häufig und bedachte mich mit einem wehmütigen Blick, woraufhin ich lachend erwiderte, dass es mir immer gefallen würde.
Gestern half ich Mutter nicht beim Eindecken, und sie fuhr mir weder mit der Hand durch den Schopf, noch küsste sie mich auf die Stirn. Wohl deswegen nicht, weil sie das Gespräch zwischen Vater und Sohn nicht unterbrechen wollte. Es stand noch etwas Unausgesprochenes zwischen uns. Aber die Unterhaltung war durch ihr Eintreten unterbrochen worden, und Vater nahm sie nicht mehr auf. Irgendwie war ich darüber froh. Daran, wie er zu mir gesprochen und mich mit gerunzelter Stirn angesehen hatte, merkte ich, dass ich eigentlich gar nicht hören wollte, was ihm auf dem Herzen lag.
Ich hatte es gestern nicht hören wollen, und ich wollte es auch an diesem Tag nicht hören, aber tief in mir wusste ich, dass ich es noch erfahren würde.
»Packen wir unsere Sachen zusammen und gehen, Hans«, sagte Vater bestimmt und schaute zu mir herunter. »Wir waren lange genug am See. Es wird allmählich kühler.«
Ich nickte. Auch wenn ich gerne geblieben wäre und von der Kühle noch nichts spürte, wagte ich es nicht, Vater zu widersprechen. Also faltete ich meine Decke und das Handtuch zusammen, steckte beides in die Badetasche und blickte mich unauffällig und in der Hoffnung um, das Mädchen noch einmal zu sehen.
Ich sah es nicht mehr. Es blieb inmitten der unzähligen Menschenleiber verschwunden.
Wir liefen den mit Gras bewachsenen Weg zurück, der neben dem Strandcafé durch ein Dickicht von Stämmen und Büschen entlangführte. Über uns sahen wir keinen Himmel, nur ein Dach aus Blattwerk, bis wir zum Ausgangstor gelangten.
Vor uns lag jetzt noch ein längerer Fußweg bis zur Haltestelle, von der die Straßenbahn nach Wilmersdorf fuhr.
Ich blieb stehen, drehte mich ein letztes Mal um und sah im Westen die Sonne zwischen zwei Birken leuchten. In den Laubbäumen zwitscherten die Amseln, und auf den noch freien Flächen der teils mit Büschen und Gehölz zugewachsenen Wiese hinter dem Strandcafé ließ sich ein größerer Entenschwarm nieder. Die Terrasse des Cafés war voll besetzt, aber noch immer strömten Leute dorthin.
Ein schöner Tag, dachte ich und seufzte kaum hörbar auf. Ich schloss die Augen und genoss ein Weilchen die warme Luft auf meiner Haut. Bis ich Mutter rufen hörte, ich solle nicht träumen, sondern weitergehen.
3
Wie an jedem anderen Morgen rüttelte mich Mutter wach. Vorsichtig öffnete ich die Augen und blinzelte gegen das noch matte Tageslicht an, das durch den schmalen Spalt der beiden nur unzureichend zugezogenen Vorhänge in mein Zimmer fiel. Dann zog ich die Decke über den Kopf und wartete darauf, dass Mutter sie mir wegriss. Eine alltägliche Gewohnheit wie das gemeinsame Eindecken des Abendtischs, ein schelmisches Spiel. Ich versteckte mich unter der Decke, und sie zerrte die Decke fort, nahm meinen Kopf in beide Hände und drückte ihre Lippen kräftig auf meine Stirn.
Das tat sie auch an diesem Morgen, aber nur mit halber Entschlossenheit. Ich schaute sie an. Ein Streifen Licht fiel auf ihr Gesicht. Ihre Augen waren ohne jeden Glanz. Ich wollte ein Blinzeln und ein Lächeln erkennen, aber sie blinzelte und lächelte nicht. Ihr lockiges Haar war noch ungekämmt. Außerdem war sie noch nicht für den Tag angezogen, trug lediglich Nachthemd und Nachtrock und den weißen Morgenmantel darüber.
»Dein Vater ist fort«, sagte sie leise.
»Vater ist fort?«
»Du weißt, er hatte keine Wahl.«
»Er musste schon gehen?«
»Ja.«
»Ist er in der Nacht gegangen?«
Mutter nickte.
Ich atmete tief durch. Empörung und Enttäuschung stiegen in mir auf, sie schmeckten bitter. Ich dachte an unser unterbrochenes Gespräch und die Ankündigung seiner Abreise. Hatte er schon zu diesem Zeitpunkt gewusst, wann er aufbrechen musste? Waren es Worte des Abschieds gewesen, die er aussprechen wollte, die jedoch unausgesprochen geblieben waren? Und wollte er nur deshalb noch einmal einige Tage mit uns verbringen? Um sich gebührend verabschieden zu können?
Aber er hatte sich nicht von mir verabschiedet, er war davongeschlichen wie ein Dieb.
Mutter zog die Brauen in die Höhe. »Er war noch einmal bei dir im Zimmer und hat nach dir gesehen. Doch er wollte dich nicht wecken. Glaub mir, Hans, nur deswegen ist er ohne Gruß gegangen.«
»Wann kommt er wieder?«
»Ich will dich nicht belügen, ich weiß es nicht.«
»Sind die anderen Väter auch fort?«
»Viele Väter sind fort, ja, einige schon seit Tagen, andere sogar schon seit Wochen. Wiederum andere folgen ihnen nun.«
»Also kämpfen wir«, stellte ich fest. »Die Polen haben wieder provoziert. Muss Vater dorthin? Nach Polen?«
»Auch das weiß ich nicht.«
»Ist es geheim?«
»Das ist es, ja.« Mutter presste die Lippen zusammen. Schließlich wandte sie sich von mir ab, zog die Vorhänge beiseite und ließ das Tageslicht vollends herein. Feine Staubkörnchen tanzten in den ersten Sonnenstrahlen des Morgens. »Steh auf und wasch dich, Hans. Du musst zur Schule.« Nach dieser Aufforderung ging sie in die Küche.
Mein Zimmer war ein Durchgangszimmer, mit einem Fenster zur Straße und zwei Türen; eine führte in die Küche und die andere in den winzigen Waschraum mit der Toilette. Dorthin ging ich, nachdem ich aufgestanden war und der heiseren Stimme des Radiosprechers in der Küche gelauscht hatte, ohne genau verstehen zu können, was er sagte. Ich nahm Seife und ein Handtuch aus dem Regal, zog mich aus und wusch mich. Wie immer waren zuerst mein Kopf und die Haare dran, danach mein Oberkörper, die Beine und zum Schluss mein Unterleib. Ein Ritual, das Mutter mir beigebracht hatte. Mein Leben schien aus einer Aneinanderreihung von Gewohnheiten zu bestehen. Auch der Gang zur Schule und die zweimal in der Woche stattfindenden Treffen des Deutschen Jungvolks waren Teile davon.
Nachdem ich angezogen war, ging ich in die Küche und umarmte