Alte Werte in neuer Zeit. Matthias Zimmer

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Alte Werte in neuer Zeit - Matthias Zimmer

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zu fördern, damit der Einzelne ein selbstbestimmtes Leben führen kann. Dies stärkt gleichzeitig die Formen freier und demokratischer Teilhabe in einem Gemeinwesen. Dieser Aspekt ist in zwei Bereichen besonders wichtig: Zum einen der Frage nach der Eigentumsbildung in der Arbeit, vor allem der Frage der Mitarbeiterbeteiligung. Zum anderen ist dieser Aspekt eminent wichtig bei der Möglichkeit, Wohneigentum zu erwerben. Der Einzelne hat hier systematisch Vorrang vor juristischen Personen bei der Frage, wie mit dem knappen Gut des Bodens umzugehen ist (dazu das Kapitel über Wohneigentum). Schließlich und letztlich: Die Erde ist uns gemeinschaftlich anvertraut. Deswegen ist der Begriff des Gemeinwohls auch universal zu sehen. Wenn die Bedingungen meines eigenen Wohlstands aus den Bedingungen der Armut und Unterentwicklung anderswo resultieren, ist dieser Wohlstand ungerecht. Wenn mein Wohlstand dazu führt, dass anderswo Armut und Unterentwicklung entsteht oder Ausbeutungsverhältnisse, dann habe ich die Verpflichtung, für Abhilfe zu sorgen. Dass eine solche Selbstverständlichkeit im Zusammenhang mit dem Lieferkettengesetz auch noch ernsthaft bestritten wird, kann nur durch eine völlige Vergessenheit des Christlichen erklärt werden. Aber die Forderungen des Gemeinwohls gehen weit über die Sorgfaltsverpflichtungen aus dem Lieferkettengesetz hinaus; wir werden dies im Kapitel über Umwelt und Schöpfung näher betrachten. Dass dies auch Auswirkungen auf die Frage hat, wie wir mit Flüchtlingen umgehen müssen, ergibt sich beinahe von selbst.7 Flüchtlinge sind Menschen, die nicht aus Langeweile aus ihren Ländern fliehen, sondern aus Not. Es ist eine Not, die häufig auch von den westlichen Industriestaaten mit verursacht worden ist, sei es durch ausbeuterische Wirtschaftsstrukturen oder durch Umweltzerstörung. Kein Wunder, dass viele Flüchtlinge sich dorthin wenden, wo sie die Ursache ihres Unglücks vermuten. Auch das ist ein Grund dafür, warum gerade die Kirchen den Abschottungsextremisten entschieden entgegengetreten sind. Und das ist auch gut so. Wohlstand auf Kosten anderer lässt sich auf Dauer nicht durch Grenzen sichern.

      3. Arbeit

      Mein Freund Ralf ist sauer. Er arbeitet bei einer Firma im ländlichen Raum. Wir kennen uns seit unserer Jugendzeit. Er hat dort vor vier Jahren angefangen und sich zunächst über die Arbeitsbedingungen gewundert. Unbezahlte Überstunden, wenig Arbeitsschutz, Leiharbeiter, die dort zu schlechten Konditionen eingesetzt werden. Auf Beschwerden reagiert die Unternehmensleitung kurz angebunden. Wenn es Dir nicht passt, dann kannst Du ja gehen, heißt es. Gewerkschaftliche Bindung gleich Null; die Gewerkschaft hat noch nie einen Fuß in den Betrieb setzen können. Einen Betriebsrat gibt es nicht. Ralf beschließt: Ich spreche mal mit ein paar Kollegen, die das auch kritisch sehen. Schnell ist die Idee geboren: Wir können doch einen Betriebsrat gründen? Ja, warum eigentlich nicht? Das Verfahren dazu kann man im Internet leicht abfragen. Das Betriebsverfassungsgesetz ist die rechtliche Grundlage. Und eigentlich ist es einem Unternehmen verboten, die Gründung eines Betriebsrates zu verhindern, wenn die rechtlichen Voraussetzungen dafür vorliegen. Eigentlich.

      Die Unternehmensleitung hat davon Wind bekommen, dass die Gründung eines Betriebsrates bevorsteht. Die Initiatoren werden einzeln zum Gespräch gebeten und unter Druck gesetzt. Es wird auch Geld geboten. Sie ziehen ihre Unterstützung zurück. Bis auf Ralf. Der wird wenige Wochen später unter einem Vorwand entlassen. Er findet zwar wieder einen neuen Job, aber Ärger und Verunsicherung sitzen tief. Alle Praktiken, die er in der Firma erfahren hat, sind verboten und teilweise strafbar. Aber: Wo kein Kläger, da kein Richter. Und in der strukturschwachen Region, aus der er kommt, ist man froh um jeden Arbeitsplatz.

      Ein zweites Beispiel. Andrei Amariei hat von 2015 bis 2019 bei der Firma Tönnies gearbeitet.8 Zu Beginn habe er sieben Wochen ohne einen freien Tag gearbeitet; aber auch andere Arbeiter, so berichtet er der Süddeutschen Zeitung, hätten drei Wochen ohne einen freien Tag gearbeitet. Häufig sei der Lohn manipuliert worden, natürlich zugunsten des Arbeitgebers. Die Zeiterfassung wurde manipuliert, die Reinigung des Arbeitsplatzes durch die Mitarbeiter nicht als Arbeitszeit anerkannt. Als Amariei die Firmenunterkunft verließ, sei ihm trotzdem das Geld für die Unterkunft von seinem Lohn abgezogen worden. Wer glaubt, solche verbrecherischen Praktiken gebe es nur in der Fleischindustrie, der irrt. Auch mein Freund Ralf kann ähnliches berichten, sicherlich nicht so krass, aber mit ähnlicher Grundstruktur: Verstöße gegen den Arbeitsschutz, die Arbeitszeitregelungen, die ausgemachte Entlohnung. Man fühlt sich an die übelsten Zeiten des Kapitalismus im 19. Jahrhundert erinnert. Tönnies hat übrigens, bei mehr als 7000 Mitarbeitern, keinen Betriebsrat.

      Sind das Einzelfälle? Das hängt ein wenig davon ab, wen man fragt. Tatsache ist allerdings: Solche Missstände finden häufig im Dunkeln statt, sie werden nicht öffentlich. Die Gewerkschaften können nur über Fälle berichten, die ihnen gemeldet werden. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, die beispielsweise prüft, ob der Mindestlohn bezahlt wird und ob die Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden, kann nur über die Fälle berichten, die sie selbst untersucht hat. Mit anderen Worten: Es gibt diese Fälle, und die Dunkelziffer der nicht entdeckten Fälle ist vermutlich hoch.

      Einen Hinweis darauf gibt eine bundesweite Kontrollaktion der Finanzkontrolle Schwarzarbeit im Februar 2019 in der Branche der Kurier-, Express- und Paketdienstleister. Etwas über 12.000 Fahrer aus dem In- und Ausland wurden nach ihren Arbeitsverhältnissen befragt, in etwas über 350 Fällen auch unmittelbar Geschäftsunterlagen der Unternehmen überprüft. Ergebnis waren 25 unmittelbare Strafverfahren wegen Vorenthaltung von Sozialversicherungsbeiträgen, knapp 50 Bußgeldverfahren wegen Verstößen gegen sozialversicherungspflichtige Meldepflichten oder ausländerrechtliche Bestimmungen und über 2100 Fälle, in denen es Anhaltspunkte für Verstöße gab, die weitere Prüfungen bei den Unternehmen notwendig machten, um den Sachverhalt zu klären. Mit anderen Worten: Bei der Stichprobe war ein Sechstel der Fälle als tendenziell kritisch anzusehen.9

      Ähnliches gilt für den Mindestlohn. Bei einer ersten bundesweiten Überprüfung im Jahr 2018 stellte der Zoll in jedem zehnten Betrieb Unregelmäßigkeiten fest.10 Im Jahr 2019 prüfte der Zoll insgesamt mehr als 55.000 Arbeitgeber und leitete aus den Überprüfungen rund 115.000 Strafverfahren und 31.300 Ordnungswidrigkeitsverfahren ein. Aus den abgeschlossenen Strafverfahren ergab sich eine Gesamtfreiheitsstrafe von 1891 Jahren und Geldstrafen in Höhe von 36,6 Millionen Euro.11 Man sieht: Verstöße gegen arbeitsrechtliche, sozialversicherungsrechtliche und andere Vorschriften sind im Arbeitsleben kein Einzelfall, sondern traurige Realität für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

      Vorschriften zum Arbeitsschutz und zur Einhaltung von Arbeitszeiten haben zwei Funktionen: Sie schützen die Schwachen und schaffen gleichzeitig eine gleiche Ausgangsposition im Wettbewerb der Unternehmen. Niemand darf im Wettbewerb beispielsweise dadurch Vorteile haben, dass er am Arbeitsschutz spart oder den Lohn drückt. Es gibt Mindeststandards, an die sich alle halten müssen. Erst dadurch entsteht ein fairer Wettbewerb. Mit anderen Worten: Der Wettbewerb ist geregelt und erstreckt sich nicht auf alle Aspekte der Unternehmenstätigkeit. Er findet seine Grenzen in der Würde des Menschen, in ihrem Schutz und ihrer fairen Behandlung, auch und gerade in der Entlohnung. Wäre dem nicht so, dann wäre Wettbewerb nichts anderes als das Überleben der Stärksten auf Kosten der Schwachen. Dann wären wir nicht weit weg von Sklavenarbeit oder Zuständen wie in England im 19. Jahrhundert. Das ist aber mit einer demokratischen Gesellschaft, die sich den Schutz der Würde des Menschen auf die Fahnen geschrieben hat, unvereinbar.

      Gleiches gilt für die Vorschriften zum Mindestlohn. Da eine Lohnuntergrenze in vielen Bereichen tariflich nicht mehr festgelegt werden konnte, musste ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt werden. Der Mindestlohn war Ausdruck der Schwäche der Sozialpartner, nicht ihrer Stärke. Aber ein Mindestlohn muss natürlich auch kontrolliert werden: Wenn mehr als die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit geleistet wird, verdient ein Arbeitnehmer weniger als den Mindestlohn. Missbrauchsmöglichkeiten gibt es genügend, auch, weil das Mindestlohngesetz sehr laxe Bedingungen für den Nachweis der geleisteten Arbeitsstunden enthält. Eine handschriftliche Dokumentation der Arbeitsstunden kann leicht manipuliert werden, und wenn der Arbeitgeber undokumentierte Arbeitsstunden anordnet, greift jegliche Kontrolle ins Leere. Sicherlich, man kann sich beschweren und den Fall der Gewerkschaft oder der Finanzkontrolle Schwarzarbeit

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