Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman). Karl May
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Читать онлайн книгу Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman) - Karl May страница 58
»Ja, das ist die wahre Judith, das muthvolle Weib, die Mörderin des Holofernes, die Retterin ihrer Heimat, welche selbst ihre Tugend zum Opfer brachte, um den Ihrigen das abgeschlagene, blutige Haupt des Feindes zu bringen.«
»War ich Dir zu lange?« fragte sie.
Dabei klang ihre Stimme ganz anders als vorher da unten in der Gerümpelstube. Der Klang war ein so schwesterlicher, traulicher, wohlthuender.
»Wohl nicht,« antwortete die Freundin. »Aber da wir dieses Gedicht lasen, mußte ich warten, und deshalb ist es mir fast recht lang geworden.«
»So laß uns weiter lesen! Ist es nicht, als habe dieser Hadschi Omanah in unsere Herzen geblickt, um dann unsern Gefühlen, Wünschen und Gedanken diese glanz- und prunkvollen Reime zu geben?«
»Ja,« antwortete die Freundin nachdenklich. »Er muß ein hochgeborener Mann sein; an seiner Wiege hat das Glück gesessen, sonst wäre ihm diese Pracht und Herrlichkeit fremd geblieben. Die Worte, in welche er seine Gedanken kleidet, gleichen funkelnden Brillanten, welche in allen Farben und Nuancen schimmern und flimmern. Keiner dieser Diamanten und Smaragden, Rubinen und Saphiren hat eine falsch geschliffene Facette. Es ist alles so werthvoll, echt und schwer, wie es eigentlich nur ein König, ein Kaiser tragen kann.«
Bei dieser begeisterten Lobrede schüttelte Judith leise und langsam den Kopf.
»Vielleicht findet gerade das Gegentheil statt,« sagte sie. »Viele Dichter und Schriftsteller schreiben gerade über das, was ihnen am Allerfernsten liegt, am Allerliebsten. Ein Prinz schreibt gern Dorfgeschichten, ein Melancholikus gern Humoresken, und ein Literat, welcher mit dem Hunger kämpft, wagt sich an das Höchste und Beste, was der Mensch zu erreichen vermag. Er träumt, es im Besitz zu haben; seine Phantasie schmückt es mit allen irdischen Werthen und Schönheiten; er fühlt sich während des Schreibens als Glücklichster der Sterblichen und sinkt, wenn er die Feder fortlegt, dem Knochengespenste des Hungers und des Elends wieder in die Arme.«
Sie ahnte nicht, wie Recht sie in diesem Falle hatte. Aber ihre Freundin sagte:
»Daran glaube ich hier nicht. Wer sich zu solcher Höhe emporzuschwingen vermag, muß auch schon auf Erden hoch Fuß gefaßt haben. Höre nur hier, wo er von dem Suchen nach Gott spricht!«
Sie nahm das Buch zur Hand und las begeistert vor:
»Schwingt Euch hinauf in jene Fernen,
Zum großen Weltenozean;
Lest in den Sonnen, in den Sternen!
Sie zeigen Euch des Ewgen Bahn.
Dort oben kann kein Zweifel walten,
Wie hier in Wort und Buch und Schrift.
Dort muß der Geist sich frei entfalten,
Bis er auf seinen Urquell trifft!« –
»Kann ein Leidender, ein Hungriger so schreiben?« fragte sie. »Klingt nicht aus jedem Worte ein Muth, eine Kraft, eine Stärke, welche nur, daß ich mich so ausdrücke, in einem gutgenährten Körper wohnen kann?«
»Dann müßten alle Helden der Weltgeschichte auch körperlich Titanen gewesen sein, und doch wissen wir das Gegentheil. Zeige her, den Schluß des Gedichtes. Auch in ihm funkelt und brillirt es, als ob der Dichter seinem Gedanken einen Königsmantel umgethan und eine Krone aufgesetzt habe. Und doch! Höre einmal!«
Sie nahm das Buch gar nicht in die Hand. Sie kannte das Gedicht. Sie recitirte aus dem Gedächtnisse und declamirte:
»Dann einet sich zu einem Strome
Die Menschheit all von Nah und Fern,
Und kniet anbetend in dem Dome
Der Schöpfung vor dem einen Herrn.
Dann wird der Glaube triumphiren,
Der einen Gott und Vater kennt.
Die Namen sinken, und es führen
Die Wege all zum Firmament!«
Sie war prächtig anzuschauen, diese Judith, welche sich von dem Dichter des Gottesgedankens so begeistern ließ, daß sich ihre Wangen rötheten und ihre dunklen Augen leuchteten und funkelten wie schwarze Kapdiamanten im Candelaberlichte.
Da drüben auf der jenseitigen Straße, im hocharistokratischen Hause, hatte vor wenigen Minuten Fanny von Hellenbach die »Nacht« desselben Dichters declamirt. Welche von den beiden Mädchen war die Schönere, die Begeistertere? Das ließ sich schwer sagen.
Judith hätte jene Gewandung tragen sollen, welche ihre Namensschwester trug, und kein Holofernes hätte ihr widerstanden. Sie ließ die beim Declamiren erhobenen Arme sinken und sagte:
»Für Dich klingt aus diesen Worten und Reimen eine Coulanz und Brillanz, welche nur einem Hochgeborenen eigen sein kann, und mir ist es, als ob ein Sterbender, der nicht empor zum wahren Firmament kann, ertrinkend tiefer und immer tiefer in die Fluthen sinkt, in denen er ja auch ein Firmament erschaut, ein trügerisches – das seinige!«
In ihren Augen schimmerte es feucht; es war ihr, als ob sie eine trübe, unglückliche Weissagung ausgesprochen hätte.
»Oh, könnte ich ihn halten, ihn emporziehen, ihn retten!« fügte sie hinzu.
Die Freundin blickte ihr in das erregte Gesicht und sagte dann:
»Du schwärmst für ihn!«
»Schwärmen?« fragte Judith, stolz die schönen Achseln zuckend. »Was ist Schwärmen? Ich kenne es nicht. Ich liebe ihn; ich liebe ihn glühend, wie nur ein Weib zu lieben vermag!«
»Das heißt, Du liebst seine Gedichte!«
»Nein; ich liebe seine Seele, welche wie ein schönes, leuchtendes Porträt aus seinen Worten strahlt. Ich bin sein Eigen; denn ich denke nur an ihn; ich könnte Alles, selbst mein Leben für ihn lassen!«
»Und wenn er häßlich ist?«
»Kann ein solcher Dichter häßlich sein? Was geht mich sein Gesicht, seine Gestalt, sein Gang, seine Haltung an? Ich sitze vor ihm, nein, ich liege vor ihm, um mich in seinem Geiste zu sonnen und aus seiner Seele Glück, Glück, tausendfaches Glück zu saugen!«
»Er ist Hadschi, also ein Muhamedaner.«
»Er sucht Gott und liebt ihn; ich suche den Dichter und liebe ihn. Wir sind Eins in einem und demselben Streben.«
»Oder ist sein Name ein Pseudonym?