Auf dem Lande alles dicht?. Mieste Hotopp-Riecke

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Auf dem Lande alles dicht? - Mieste Hotopp-Riecke страница 5

Автор:
Серия:
Издательство:
Auf dem Lande alles dicht? - Mieste Hotopp-Riecke

Скачать книгу

mit Willy Brandt – Restauration. Die Zivilgesellschaft erwacht, aber die in der Nazi-Zeit sozialisierte Generation der inzwischen alten weißen Männer regiert weiterhin das Land. Aber einiges ist faul im Staate. Die RAF erschüttert das System. Und zum ersten Mal herrscht wieder Massenarbeitslosigkeit. Die geschniegelte Oberfläche führt zu popkulturellen Massen-Erscheinungen wie ABBA, gutlaunigem Lala. Aber aus dem Untergrund formt sich eine Erscheinung, die der Gesellschaft vor Augen hält, wie kaputt sie tatsächlich wirkt: Punk. Die Rohheit, das bewusst Unästhetische, das Fratzenhafte – es reflektiert den Zustand des Landes wie eine Karikatur: zwar provokativ überzeichnend, aber doch im Kern treffend.

      Oder die 1980er: Im Lande Kohls macht sich Stillstand breit. Nichts bewegt sich. Wartezeit. Und wenn irgendwelche Probleme auftauchen, ist es immer gleich die Apokalypse, die sich da anzubahnen scheint: der atomare Supergau, die totale Klimakatastrophe, Aids, das Sterben der Tierarten. Die Schwere, Ernsthaftigkeit erfasst auch die Jugend, die in dieser Zeit sehr stark politisiert ist, demonstrieren geht wie lange nicht mehr. Aber was hört die Masse? ZDF-Hitparade und Neue Deutsche Welle. „Ich will Spaß, ich will Spaß.“ Schluss mit der sorgenvollen Schwere. Ein Reflex, ein Protest. Wie Popart.

      Die 1990er: Die Gesellschaft ist ja so modern, Tabus gib?s kaum noch. „Wir können über alles reden“ – und tun das auch unentwegt, aufgeklärt, vermeintlich aufklärerisch. Und dann kommt Techno, redet eben gar nicht mehr. Elektronisch treibende Rhythmik, zappelnde Körper, lächelnde Gesichter, und inmitten der ganzen Probleme nach der Wiedervereinigung – Arbeitslosigkeit, Aufkeimen der rechten Szene – gilt für die Techno-Jugend nur noch diese eine Botschaft: Lasst uns zusammen feiern, in Frieden, wir gehören doch alle zusammen.

       Und heute wirbt eine Bausparkasse mit einem herrlich ironischen Spot: Lena und ihr Vater sitzen vor ihrem Wohnwagen inmitten einer alternativen Wagenburg. Lena: „Ich kenn da ein Mädchen aus meiner Klasse, und der Vater von der, der hat ein eigenes Haus, wo jeder sein eigenes Zimmer hat? „Das sind doch Spießer“, antwortet der 40-jährige Vater. Lena hakt nach: „Und der Bernd hat eine Wohnung auf dem Dach, von wo aus man die ganze Stadt sehen kann.“ Der Vater mürrisch: „Auch Spießer.“ Darauf Lena: „Papa, wenn ich groß bin, dann will ich auch mal Spießer werden.“ Da vollzieht sich offenbar ein Mentalitätswechsel hin zu konservativen Werten. Die Soziolog*innen jedenfalls warnen schon, dass die derzeit stattfindende Anpassung der Jugend an die Lebensrealitäten und damit das fehlende Revoluzzertum zu einem Versiegen erneuernder Ideen führen könnte, die die früher aufrührerische Jugend doch immer mit sich gebracht habe.

image

      Sie meinen diese ergrauten oder Midlifecrisis-geschüttelten Herren, die sich abstrampeln, staatliche Fördergelder für inhaltlich sinnlose Projekte zu bekommen und bei Demonstrationen und anderen zivilgesellschaftlichen Protestaktionen meist fehlen, um anschließend die Jugendlichen zu kritisieren, dass sie sich nicht genug engagieren? Diese Werbung richtet sich natürlich nicht an die Jugendlichen selbst, sondern an die Eltern, die ja den Bausparvertrag für ihre Kinder abschließen sollen und ihren eigenen Anti-Spießer-Faktor meist gnadenlos überschätzen, weil sie sich in ihr eigenes jugendlich-rebellisches Selbstbild verliebt haben, obwohl dies mit der Realität nichts mehr zu tun hat. Die Jugend hat sich im Grunde immer nach einem Idyll gesehnt. Nehmen Sie die Hippies: Was gibt es denn Idyllischeres als deren Vorstellung von einem Leben in Frieden und Harmonie im Einklang mit der Natur, womöglich noch als Selbstversorger? Dass das klassische Familienmodell wieder mehr Konjunktur hat, liegt nicht zuletzt daran, dass sehr viele in anderen Lebensbereichen das nicht mehr erleben: Idyllisches Familiendasein als Rückzugsort gegenüber den Zumutungen und Unsicherheiten der Welt draußen. Eigentlich für ehemalige DDR-Bürger*innen nichts Neues, nur jetzt bundesweit.

       Also stimmt es doch: Die Jugend wird konservativer, versprüht weniger umstürzlerischen Geist, ist unpolitischer?

      Im wirklichen Leben gingen damals nur 3 bis 5 % der Studierenden demonstrierend auf die Straße, weniger als davor und weniger als heute.

      Zunächst einmal: Wenn wir mal zum Vergleich die berühmten „Achtundsechziger“ des Westens nehmen, die nachfolgenden Generationen bis heute als leuchtendes Vorbild vorgehalten werden: Scheinbar eine ganze Generation auf den Barrikaden, politisiert und engagiert, Aktivisten einer politischen, sexuellen und kulturellen Revolution. Im wirklichen Leben gingen damals nur 3 bis 5 % der Studierenden demonstrierend auf die Straße, weniger als davor und weniger als heute. Die beliebtesten Musiker dieser Zeit bei Jugendlichen waren laut den Verkaufscharts auch nicht Jimmy Hendrix, Grateful Dead oder die Doors, sondern Heintje und Roy Black. Die positive Nachricht: Wenige engagierte Menschen können viel erreichen, Minderheiten können die ganze Gesellschaft verändern, wenn sie den Zeitgeist treffen. Und: Schon in den vergangenen Jahrzehnten hatten wir vor allem durch 9/11, den ersten Golfkrieg und die rechtsextreme Gewalt Millionen Jugendlicher demonstrierend auf den Straßen – so viele wie nie zuvor. Schüler*innen und Studierende haben gemeinsam Universitäten besetzt, um auf die miserable Bildungspolitik hinzuweisen. Nur: Das alles hat die Erwachsenengesellschaft nicht interessiert. Sie war nicht bereit für Änderungen – schon gar nicht, wenn diese von jungen Leuten gefordert wurden. Das hat sich erst mit den Fridays for Future geändert.

       Mama geht mit Töchterlein zu H&M einkaufen. Papa geht mit dem Sohnemann zum Rockkonzert. Der Spielraum der Jugend wird immer mehr vereinnahmt, Abgrenzungen zur Elterngeneration werden immer schwieriger. Im Gegensatz zu all den Jahrzehnten zuvor ist es bei der heutigen Jugend offenbar unmöglich, eine treibende Bewegung zu entwickeln. Nicht umsonst wird seit längerem zu nichtssagenden Umschreibungen wie „Generation Golf“, „Generation Pop“ „Generation X - Y - Z“ gegriffen.

      Der Mainstream selbst hat sich längst in diverse Subkulturen parzelliert, die deutsche Gesellschaft ist viel zu divers, um noch eine gemeinsame, verbindliche Norm der Lebensstile zu finden. Der früher normative, heute nur noch retro-konservative Familienklassiker – Vater, Mutter,; zweieinhalb Kinder – ist nur noch ein Minderheitenmodell.

      Das ist eben das eigentlich Neue an dieser Jugend: Ihr kann kein Stempel mehr aufgedrückt werden. Die Jugendkulturen der vergangenen sieben Jahrzehnte sind ja im Grunde alle bestehen geblieben und existieren in einem bunten Nebeneinander. Dass etwa Hip-Hop, ursprünglich eine Ghetto-Undergroundkultur, eine Mainstreammode geworden ist, ist ein typisches Phänomen unserer Zeit, die durch Kommerzialisierung und Allgegenwart der Medien alles auch nur vermeintlich Neue zum Trend stilisiert, hypt und damit als eigentliche Bewegung entkernt. Die gibt es zwar immer noch, hat aber mit dem, was im Mainstream als Hip-Hop verstanden wird, nur noch die Oberfläche gemeinsam. Das wirkt auf Erwachsene wie Jugendliche und macht es für Letztere in der Folge tatsächlich immer schwerer, sich abzugrenzen. Deshalb werden die Versuche der Minderheiten, die es für ihre Identität nach wie vor wichtig finden, nicht nur „kleine Erwachsene“ zu sein, sondern sich eine eigene Lebenswelt aufzubauen, immer extremer, die Labyrinthe immer verzweigter. Heutige Marketing-Studien sprechen in Deutschland von einer Zahl zwischen 400 und 600 jugend- und subkultureller „artificial tribes“ – also Stammesgesellschaften, die sich durch eigene Rituale, Treffpunkte (reale und virtuelle), Stilmerkmale und vor allem eine eigene Musik voneinander und von der Erwachsenenwelt unterscheiden: Gamer und Ultras, Streetballer und Skateboarder, Health Goth und VSCO-Girls, Trap- und Black-Metal-Fans, Cosplayer*innen und Seapunks – allein die großen Szenen Techno, Heavy Metal, Punk, HipHop und Gothic haben jeweils Dutzende Untergruppen und Substyles herausgebildet. Und wieder – Sie ahnen es bereits – spiegelt das die Entwicklung unserer Gesellschaft wider, die ja nicht umsonst oft als „Minderheitengesellschaft“ definiert wird: Der Mainstream selbst hat sich längst in diverse Subkulturen parzelliert, die deutsche Gesellschaft ist viel zu divers, um noch eine gemeinsame, verbindliche Norm der Lebensstile zu finden. Der früher normative, heute nur noch retro-konservative Familienklassiker – Vater, Mutter, zweieinhalb Kinder – ist nur noch ein Minderheitenmodell, zu dem etwa in Berlin noch rund 20 % der Bevölkerung gehören. Der Anteil der Senior*innen, die inzwischen in Wohngemeinschaften

Скачать книгу