Auf dem Lande alles dicht?. Mieste Hotopp-Riecke
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Und damit es kein einmaliges Strohfeuer wird, sondern die Stadt oder die Region nachhaltig verändert, sollten sich Städte und Landgemeinden selbst verpflichten, eine jugendfreundliche Stadt bzw. Gemeinde zu werden, und entsprechend „Runde Tische für eine jugendfreundliche Stadt“ starten, bei denen sich Politik, Verwaltung, Schule, Polizei, Verbände, Vereine, Kultureinrichtungen, Jugendarbeit, Wirtschaft und Jugendliche regelmäßig treffen und an dem Thema arbeiten.
Viele Jugendliche sind bereits in einem oder mehreren Vereinen. Hat hier die Jugendarbeit trotzdem eine Chance, etwas weiterzubringen?
Ja, das Zeitbudget von Jugendlichen wird immer enger, manche junge Leute haben schon einen Terminkalender wie ein Abgeordneter. Umso mehr brauchen Jugendliche aber auch einen Freiraum, wo sie nichts Sportliches, Musikalisches oder sonst etwas für ihren weiteren Karriereweg Sinnvolles leisten müssen. Einen Ort, wo sie einfach nur zusammen sein, sich austauschen und entspannen können. Das kulturelle Engagement rund um die Jugendarbeit garantiert Vielfalt, sodass man zum Beispiel sowohl in der Gemeindekapelle als auch in der Metal-Band spielen kann. Das ehrenamtliche Engagement im Verein ist sehr wichtig und positiv für die Jugendlichen, aber oft auch sehr hierarchisch aufgebaut. Das heißt, die Jugendlichen dürfen sich zwar einbringen, aber das Sagen haben meistens ältere Männer, die seit Jahrzehnten den Verein führen und entscheiden, wo und wie genau die Jugendlichen sich engagieren dürfen, und nicht bereit sind, auch nur einen Millimeter ihrer Macht abzugeben. Genau deshalb braucht es auch die Offene Jugendarbeit, wo eine andere Mentalität herrscht.
Wo soll es hingehen mit den Jugendkulturen? Was wünschen Sie sich von den jugendlichen Aktivist*innen?
Nichts anderes als das, was sich alte Säcke schon immer von „der Jugend“ wünschen: Sie mögen endlich mal wieder mehr rebellieren. Denn dass die Welt, wie wir sie den Jungen hinlegen, zum Teil erbärmlich ist – Bienen sterben aus, Banken und Autokonzerne erhalten Milliarden geschenkt, aber für die Renovierung maroder Schulen ist kein Geld da; Menschen verhungern oder leben unter der Armutsgrenze, während Konzerne wie Apple, Google, McDonal?s, Amazon oder Starbucks in Deutschland Milliarden umsetzen, ohne darauf Steuern zu zahlen usw. -, dürfte klar sein. Aber: Die Jugend selbst, so engagiert sie auch sein mag, hat keine Chance, dies zu ändern. Sie braucht Bündnispartner bei den älteren Generationen. Auch eine Jugendarbeit, die nicht zur bloßen Pädagogik und PR-Show ger*innen will, wird verstärkt intergenerative Lobbyarbeit betreiben und sich politisieren müssen.
Gibt es heute ein Patentrezept für Eltern, damit ihre Kinder „auf den richtigen“ Weg kommen?
Kein neues, aber ein nach wie vor wirkmächtiges altes: Respekt, Anerkennung, „Kinder stark machen“, wie ein alter pädagogischer Leitsatz heißt. Selbstbewusste Menschen müssen nicht andere erniedrigen, um sich zu erhöhen, und nur wer sich selbst schätzt und mag, ist auch in der Lage, Empathie für seine Mitmenschen zu entwickeln. Leider haben immer noch sehr, sehr viele Jugendliche wenig Anlass und Chancen, Selbstbewusstsein zu erwerben. Während die Armut der Gesamtgesellschaft sinkt, wächst die Kinder- und Jugendarmut ungebremst weiter. Die Schere zwischen denen, die fast alles haben, und denen, die an und unter der Armutsgrenze leben, öffnet sich weiter. Während „die Jugend“ heute in ihrer Gesamtheit zu einer der reichsten Generationen seit Jahrzehnten gehört, wird ein Drittel dieser Generation vom Reichtum und den Chancen der postmodernen „Multioptionsgesellschaft“ systematisch ausgeschlossen. Viele Junge fühlen sich schon mit 13, 14 Jahren überflüssig in dieser Gesellschaft. Und auch die Schule ist bis heute strukturell nicht in der Lage bzw. willens, da gegenzusteuern und eine Anerkennungskultur zu entwickeln, die Schüler*innen für gute Leistungen belohnt statt für Versagen bestraft und herabwürdigt. Respekt ist nicht zufällig ein Schlüsselwort fast aller Jugendkulturen. Respekt ist das, was Jugendliche am meisten vermissen. Viele Erwachsene, klagen Jugendliche, sehen Respekt als Einbahnstraße an. Sie verlangen von Jugendlichen, was sie selbst nicht zu gewähren bereit sind, und beharren eisern auf ihre Definitionshoheit, was anerkennungswürdig sei und was nicht: Gute Leistungen in der Schule werden belohnt, dass der eigene Sohn aber auch ein exzellenter Gitarrist ist, die Tochter einen vielbesuchten Blog gestaltet, interessiert zumeist nicht – es sei denn, um es zu problematisieren: Bleibt da eigentlich noch genug Zeit für die Schule? Musst du immer so extrem herumlaufen, deine Lehrer finden das bestimmt nicht so gut … Noch nie war die Erwachsenenwelt derart desinteressiert an der Kreativität, den Leidenschaften ihrer „Kinder“. Dabei weiß doch nicht nur jede*r gute Lehrer*in, welche Schüler*innen am meisten Stress verursachen: die Gleichgültigen, die, die sich für gar nichts interessieren, die keine Leidenschaft kennen, für nichts zu motivieren sind. Schule braucht heute nicht nur motivierte – und damit auch professionell ausgebildete und gut bezahlte – Lehrer*innen, sondern auch engagierte, kreative, selbstbewusste Schüler*innen. Und Eltern, die dies unterstützen, fordern, zulassen und nicht die Schule verklagen, weil ihr Kind eine schlechte Note erhalten hat.
Wenn wir einen Blick in die Zukunft wagen: Wenn die Leute in 25 Jahren erwartungsgemäß auch über „die heutige Jugend“ schimpfen, welches werden dann die Hauptprobleme sein?
Die gleichen wie heute: Auch die Jugend der Zukunft wird als respektlos und unpolitisch gelten, als konsum- und markenverliebt; sie wird zu viel Rauschmittel nehmen und sich zu wenig engagieren; statt gute Bücher zu lesen, wird sie weiterhin die Sprache in Comics, Chatrooms, SMS-Botschaften und noch kommenden neuen Kommunikationsmedien verstümmeln; statt reale Beziehungen zu knüpfen, wird sie autistisch vor dem PC sitzen und virtuelle „Freunde“ in Sozialen Netzwerken sammeln. Denn man muss kein Psychoanalytiker sein, um zu erkennen, dass die Erwachsenengesellschaft ihre eigenen Sündenfälle und Problemlagen gerne auf „die Jugend“ überträgt. Betrachten wir „die Jugend“ von heute, dann wissen wir, was „die Eltern“ von morgen ihren Kindern in die Schuhe schieben werden.
Dies ist eine ergänzte Fassung des Interviews von Lucia de Paulis vom 22. Februar 2020 (Treffen von Klaus Farin mit Südtiroler Jugendarbeitern, Plattform-Netzwerktreffen vom netz I Offene Jugendarbeit, Jugendzentrum Fly in Leifers, 13.02.2020), veröffentlicht in der Reihe Picobello, einer salto.bz-Reihe über Jugendkultur in Südtirol, s.a.: https://www.salto.bz/it/article/18022020/interview-mit-klaus-farin [11.04.2020]
Die Idee vom Dazugehören
Prasanna Oommen
Auf der einen Seite steht der rechte Heimatbegriff, das Narrativ einer rückwärtsgewandten homogenen Mehrheitsgesellschaft. Demgegenüber steht eine gesellschaftliche Realität, die eine unumkehrbare Vielfalt und damit die Neuen Deutschen repräsentiert. Einen Heimatbegriff dafür gibt es in der Mitte der Gesellschaft noch immer nicht. Kann Kulturelle Bildung Brücken bauen? Nicht solange sie Mechanismen reproduziert, die Menschen ausschließen und ihnen Anerkennung und Zugehörigkeit verwehren.
Mein Heimatbegriff ähnelt dem Bild einer ewig unglücklichen Liebe: Trotz großer Gefühle führte häufiges Infragestellen irgendwann zu einer distanzierten Haltung. Dies wiederum ermöglichte mir einen anderen, freiheitlichen Blick auf meine Heimat. Der jüdischstämmige Medientheoretiker Villem Flusser war ein Widerständler gegen den traditionellen ortsgebundenen Heimatbegriff: „Ich wurde in meine erste Heimat durch meine Geburt geworfen, ohne befragt worden zu sein, ob mir dies zusagt. Die Fesseln, die mich dort an meine Mitmenschen gebunden haben, sind mir zum großen Teil angelegt worden. In meiner jetzt errungenen Freiheit