Auf dem Lande alles dicht?. Mieste Hotopp-Riecke
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Flusser ging noch weiter, er empfahl Migrant*innen die aktive Rolle der Brückenbauer*in. Doch genau hier tat sich ein Dilemma auf: Mir und vielen anderen mit ähnlichen biografischen Bezügen war genau diese Rolle oft mehr als unangenehm. Unter anderem, weil ich eine Seite der Brücke nicht im Geringsten kannte, sondern mich vielmehr auf das Hörensagen der Eltern verlassen musste. Ich verstand zunehmend, dass wir, die „Neuen Deutschen“, Verantwortung für die eigene Beheimatung übernehmen mussten. Heute, 47 Jahre nach meiner Geburt in einem Land, das nicht die originäre Heimat meiner Eltern ist, bin ich überzeugt, dass es für ein echtes Zugehörigkeitsgefühl von zentraler Bedeutung ist, in der Mehrheitsgesellschaft willkommen zu sein – inklusive der eigenen kulturellen Prägung. Der Schriftsteller Navid Kermani beschreibt die Bedeutung des gesellschaftlichen Miteinanders für sein Heimatgefühl folgendermaßen: „Heimat hat für mich nichts mit Nation zu tun, sondern mit meiner unmittelbaren Lebenswirklichkeit. Die Freunde, die Sprache, was mich jeden Tag beschäftigt.“ Dies bildet sicher einen Teil positiver Heimaterfahrungen ab. Aber aus meiner Sicht sind sie unvollständig, da sie das mangelnde WIR-Gefühl in unserer diversifizierten postmigrantischen Gesellschaft ignorieren und auch wichtige Fragen außen vorlassen: Wer darf wirklich dazugehören und welche Stimmen wollen (sollen?) gehört werden?
Sicher sehnen wir uns nach einfachen Antworten in diesen bewegten Zeiten. Doch ein stabiles Gefühl der Verankerung setzt mehr als positive Erfahrungen Einzelner voraus. Ohne einen starken gemeinsamen politischen Willen sind die Erfolgsaussichten gering. Die Soziologin Cornelia Koppetsch subsumiert unter Heimat „Erinnerungen an Kirchturmglocken und gemähtes Gras aus Kindheitstagen mit drängendsten Problemen der Gegenwart: Herkunft, Bleiberecht, Wanderung und vor allem das Streben nach Zugehörigkeit, Stabilität und Vertrautheit.“ Es sind genau diese ungelösten Probleme, die den Heimatdiskurs seit mehreren Jahren konsequent nach rechts lenken. Subversiver Rassismus und die Angst vor dem Fremden in der gesellschaftlichen Mitte sind nach wie vor hoffähig und spätestens seit Thilo Sarrazins islamophober Mission schamlos offensiv zur Schau gestellt worden. „Kümmeltürke“, „Spaghettifresser“, „griechische Parasiten“, „Mafiarussen“, „Kinder statt Inder“1 – die Liste abwertender Stereotype und Ausschlussmechanismen für marginalisierte Gruppen ist endlos und natürlich kein rein deutsches Phänomen. Deutschlandspezifisch ist die späte Erkenntnis, ein Einwanderungsland zu sein. Als Jürgen Rüttgers um die Jahrtausendwende Wahlkampf auf dem Rücken der indischen Minderheit machte, verstand auch ich es: Wir gehörten trotz aller Anstrengungen meiner Eltern, trotz einer „Fast-Assimilation“ nicht dazu. Weiterhin gilt: Mehr als 60 Jahre nach dem ersten Anwerbeabkommen verfügen die Enkel*innen der Migrant*innen der ersten Stunde noch immer nicht über dieselben Zugänge wie Herkunftsdeutsche. Die sogenannte gläserne Decke, die durch kulturelle Codes unausgesprochen ausschließt, ist nach wie vor gesellschaftliche Realität. Da dies auch für Herkunftsdeutsche aus nicht privilegierten sozialen Klassen gilt, muss sich ein Heimatdiskurs ganz wesentlich am sozialen Zusammenhalt entfachen. Wenn wir also einen Heimatbegriff für alle wirklich wollen, dann sind wir in der Pflicht, ihn aus der rechts-konservativen Ecke zurückzuerobern.
Und weil Heimat nicht einmalig bestimmbar ist, sondern ständig im Miteinander neu ausgehandelt wird, müssen die gesellschaftlichen Strukturen durchlässiger werden, um eine Gesellschaft der Vielen glaubwürdig zu repräsentieren und das Heimat-Narrativ so auch emotional für alle zu öffnen. In der Kulturellen Bildung könnte gesellschaftlicher Zusammenhalt gestärkt werden, wenn das kulturelle Erbe aller gleichwertig in Inhalte und Vermittlung einfließt und wenn die Deutungshoheit darüber, was und wer dazugehört, nicht einer gesellschaftlichen Gruppe vorbehalten bleibt. Das bedeutet – radikal formuliert, aber längst nicht neu – die endgültige Absage an die wertende Unterscheidung von Hochkultur, Soziokultur und Subkultur. Kinder und Jugendliche, deren kulturelle Prägung jenseits der westlichen Kulturrezeption stattgefunden hat, müssen als Produzent*innen und Rezipient*innen ernst genommen, statt aufgrund ihrer Herkunft als „nicht kulturaffin“ eingestuft werden. Gute Beispiele für die damit verbundenen Erfolge gibt es bereits vielfach: Das Import Export Kollektiv des Theaterpädagogen Bassam Ghazi am Schauspiel Köln, das Klavierfestival Ruhr oder auch transkulturelle Theater wie das Gorki Theater Berlin, das Theater Ballhaus Naunynstraße in Berlin u.v.a. sind Beispiele, wie inklusive Kulturproduktion aktiv die Regelbetriebe zum schrittweisen Umdenken bewegt und solche Produktionen Teil eines Angebots für unsere vielfältige Gesellschaft werden.
Zukünftig geht es um den konsequenten Transfer dieser Erfahrungen auf die Regelbetriebe, was wiederum vom bereits angesprochenen politischen Willen abhängig ist. In vielen Kommunen sowie auf Bundesebene sind notwendige interkulturelle/transkulturelle2 Öffnungsprozesse etwa im öffentlichen Dienst bereits im Gange. Hierbei handelt es sich um strukturelle Change-Management-Prozesse, die Jahre dauern werden.
Warum hinkt ausgerechnet unsere Kultur- und Bildungslandschaft hinsichtlich einer konsequenten Öffnung hinterher, obwohl es um den Zusammenhalt unserer nicht mehr umkehrbaren diversen Gesellschaft geht? Warum absolvieren Erzieher*innen, Lehrer*innen, Fachkräfte der kulturellen Jugendarbeit, Kulturpädagog*innen, Künstler*innen sowie das Lehrpersonal in Ausbildungsstätten des Kulturbetriebs nicht längst verpflichtende interkulturelle/transkulturelle Qualifizierungen und antirassistische Trainings? Warum wird die Erinnerungskultur der postmigrantischen Gesellschaft nicht in Schul- und Geschichtsbücher integriert? In den Kultur- und Bildungseinrichtungen unserer beneidenswert reichen Gesellschaft befinden sich doch die wertvollen Räume, in denen Verwurzelung außerhalb der Familie möglich ist. Warum liegen diese Chancen und Möglichkeiten brach?
Bereits als junge Erwachsene empfand ich ein Störgefühl, das stetig wuchs. Zahlreiche Erfahrungen während meiner Tätigkeit als Tanzvermittlerin und als darstellende Künstlerin führten zu der Erkenntnis, dass nicht nur in vielen Bereichen der kulturellen Jugendarbeit eine eurozentristische Perspektive dominierte.
Mein Aufwachsen war innerfamiliär von einer friedlichen Koexistenz westlicher und außereuropäischer Musik- und Tanztraditionen geprägt. Das schloss den Respekt vor Kulturschaffenden jeglicher Sparte und Couleur mit ein. Meine gesellschaftlichen Beobachtungen deckten sich damit leider nicht. Bereits als junge Erwachsene empfand ich ein Störgefühl, das stetig wuchs. Zahlreiche Erfahrungen während meiner Tätigkeit als Tanzvermittlerin und als darstellende Künstlerin führten zu der Erkenntnis, dass nicht nur in vielen Bereichen der kulturellen Jugendarbeit eine eurozentristische Perspektive dominierte. Weil dort beispielsweise sogar die ehrenamtlichen Strukturen weitestgehend herkunftsdeutsch besetzt warenund dementsprechend Multiperspektivität nicht möglich war. Auffallend war, dass gerade in der professionellen Kulturszene migrantisches kulturelles Erbe nicht mehr als eine Randerscheinung sein durfte. Erst seit einigen Jahren werden die Strukturen und Angebote der hochsubventionierten bundesdeutschen Kulturlandschaft und auch Bereiche der Kinder- und Jugendbildung vorsichtig infrage gestellt: Weil vieles nicht ausreichend genutzt wird bzw. zu wenige Menschen erreicht werden und gleichzeitig auch aus den Steuergeldern derjenigen Menschen finanziert wird, die von Kindesbeinen an exkludiert werden. Stattdessen reproduziert sich weiterhin eine herkunftsdeutsche bildungsbürgerliche und finanzstarke Elite. Wenn ich heute auf Kulturproduzent*innen mit migrantischen Wurzeln treffe, lautet die einstimmige These: Die Begrenzung auf herkunftsdeutsche und westliche Narrative privilegierter Akteur*innen stand früher wie heute für die aktive Sicherung von Macht und Privilegien. Dabei könnte die quantitative Erweiterung des Kanons einen qualitativen Zuwachs an Programm, Personal und auch Publikum bedeuten und damit die TOP-Themen im aktuellen kulturpolitischen Diskurs mitbearbeiten. Doch für die derzeitigen Kulturakteur*innen bedeutet jede Verschiebung des inhaltlichen Fokus (auch von Förderkriterien) einen möglichen Verlust eigener Privilegien. Wenn die Kultur eine relevante Stimme für einen offeneren Heimatbegriff gegen die Vereinnahmung von rechts werden soll, wird es allerhöchste Zeit, dass sich die Kulturbourgeoisie dieses Landes ihren eigenen Vorurteilen, Rassismen und Ansprüchen