Auf dem Lande alles dicht?. Mieste Hotopp-Riecke

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Auf dem Lande alles dicht? - Mieste Hotopp-Riecke

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Jugendlichen zu gewinnen. Glaubwürdigkeit sieht anders aus. Und dann jammern sie wieder, dass Jugendliche nichts von Parteien wissen wollen, und beschimpfen sie als „unpolitisch“. Nicht nur die Fridays for Future zeigen, dass viele Jugendliche im Gegenteil sehr politisch denken und handeln und gerade deshalb Parteien ignorieren – weil sie wissen, dass sie von dort keine Unterstützung zu erwarten haben. Als der FDP-Chef Lindner damals forsch twitterte: „Hey, Kids, finde ich gut, dass ihr euch engagiert, aber überlasst die komplexen Themen der Politik doch lieber den Experten“, und daraufhin über 12.000 Wissenschaftler*innen in einem Offenen Brief antworteten: „Wir sind die Expert*innen und die Fridays haben Recht in ihren Forderungen, hören Sie auf die Kids, Herr Lindner“, hat die FDP ihre Politik um keinen Millimeter geändert – nur ihre Rhetorik umgestellt. Und der bayerische Ministerpräsident klingt in seinen Reden zum Klimawandel heute schon manchmal so, als sei er heimlich Mitglied der Grünen geworden. Ähnliche Echos erhielten die Fridays von CDU und SPD: Die Bundesregierung lobt in fetten Anzeigenkampagnen ihr eigenes Klimaengagement, verspricht den Kohleausstieg bis zum Jahr 2038 und lässt gleichzeitig ein neues Kohlekraftwerk bauen – dessen Hauptkunde nebenbei die Deutsche Bahn sein wird, die sich ja ebenfalls als Ökobetrieb präsentiert. So dumm ist kein Jugendlicher, dass er nicht den Zynismus und die Doppelmoral der politischen Rhetorik erkennt.

      Die Politik hinkt der gesellschaftlichen Realität schon immer um mindestens ein Jahrzehnt hinterher. Man muss sich nur einmal die Zusammensetzung, aber auch die Sprache und Ästhetik des Deutschen Bundestags ansehen. Der ist eine der letzten Wellness-Oasen alter weißer Männer, die gerne noch länger dort verweilen möchten. Und deshalb aus Opportunismus ihre Politik nur dann als letztes Mittel ändern, wenn sie endlich spüren, dass der gesellschaftliche Gegenwind zu stark für sie wird. Warum sollen sich Jugendliche gemeinsam mit solchen Menschen für irgendetwas engagieren? Deshalb geht es bei den Fridays nicht nur um konkrete Inhalte – sie haben die Machtfrage gestellt.

       Sie haben das Thema Fachkräftemangel angesprochen, das ist hier in Sachsen-Anhalt ebenfalls ein großes Problem. Welchen Beitrag können die Arbeit mit Jugendlichen und die kommunale Jugendpolitik leisten, um die Abwanderung zu bremsen?

      Sicher ist, es reicht nicht, ein paar nette Großevents zu veranstalten, um Jugendliche ans Territorium zu binden. Die Qualität der verbandlichen und kommunalen Jugendarbeit und vor allem -förderung zeigt sich nicht in den „Leuchttürmen“, den Festivals und anderen affirmativen Großevents, sondern darin, wie sie mit dem umgeht, was die Bürgerkultur nicht mag – etwa mit der nicht autorisierten Wiederaneignung des öffentlichen Raums durch Punk, Graffiti, Street Art, Parcours oder andere alternative Gruppen. Bei der Entscheidung, irgendwo hinzuziehen bzw. irgendwo zu bleiben, gibt es harte Faktoren und weiche Faktoren. Die harten Faktoren sind: Gibt es Arbeit, ist sie gut bezahlt, ist sie zukunftsfähig, macht sie Sinn und Spaß? Gibt es bezahlbaren Wohnraum? Ist die Betreuung unserer Kinder durch gute Schulen und ausreichend Kitaplätze gewährleistet? Aber zur Entscheidung, wo man leben möchte, gehören zunehmend auch weiche Faktoren wie die allgemeine kulturelle Vitalität und Diversität der Stadt oder Region und die Frage: Gibt es attraktive Angebote für Kinder und Jugendliche? Werden sich unsere Kinder hier wohlfühlen? Das spielt eine Rolle, auch wenn man selbst noch gar keine Kinder hat. Es ist eine wichtige Zukunftsperspektive. Was viele Städte und Regionen mit Fachkräftemangel noch nicht auf dem Schirm haben, ist, dass sich die Leute, bevor sie irgendwo hinziehen, auch über die Jugendkultur und Freizeitsituation für ihre Kinder informieren, nicht nur über das städtische Theater und die klassische Kultur. Denn die Sichtbarkeit von Jugendkulturen ist ein Zeichen für Toleranz und Diversität. Ob es uns gefällt oder nicht, ob zu Recht oder zu Unrecht: Menschen aus Westdeutschland und erst recht aus anderen Ländern teilen aufgrund der starken Präsenz rechtsextremer und rechtspopulistischer Strukturen und Haltungen eine große Skepsis gegenüber Sachsen-Anhalt und den anderen neuen Bundesländern. Hier liegt die Beweislast bei den Ländern, Städten und Gemeinden, nachzuweisen, dass auch Fremde sich dort sicher und wohl fühlen können und Vielfalt ausdrücklich gewünscht ist. Aber auch für die Wiederkehrer*innen, also für Jugendliche, die aus einer ländlichen Gegend abwandern und später wieder dorthin zurückkommen, ist ein entscheidender Faktor, wie die Antwort auf die Fragen ausfällt: „Hab ich mich als Jugendlicher dort überhaupt wohlgefühlt? Hatte ich das Gefühl, willkommen zu sein und mich ausleben zu dürfen?“

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       Welches sind aus Ihrer Sicht die größten Fehler, die von Behördenseite im Umgang mit Jugendlichen gemacht werden – oder positiv gefragt: Was könnte verbessert werden?

      Die Verdrängung von Jugendlichen aus dem öffentlichen Raum muss unbedingt gestoppt werden. Es gibt für Jugendliche immer weniger öffentliche, frei zugängliche und unverzweckte Räume, also Räume ohne vorab festgelegte Funktionserwartungen und pädagogische Betreuung. Die Alltagsund Lebenswelten von Jugendlichen werden zusehends funktionalisiert, verdichtet, kommerzialisiert und der öffentlichen Überwachung unterworfen. Das negative Jugendbild wird deutlich stärker mit repressiven Forderungen aufgeladen – natürlich alles „im Interesse der Jugend“. Der Jugendschutz wird immer mehr zur Waffe gegen die Jugend. Die Jugend muss geschützt werden – ob sie es nun will oder nicht. Pädagogisch und jugendschützerisch verbrämt werden jugendliche Freiräume immer weiter eingeschränkt. Jugend heute ist von einem „pädagogischen System fürsorglicher Belagerung umstellt“, wie es der Jenaer Professor für Sozialwesen Werner Lindner auf einer Fachtagung formulierte. Das ausufernde Präventionsdenken in unserer Gesellschaft stattet sich mit immer rigideren Kontrollwünschen aus. Siehe etwa die flächendeckende Überwachung des städtischen Raums, vor allem der künstlichen Einkaufszonen, mit Kameras und privaten Sicherheitsdiensten, die besonders auf Jugendliche angesetzt werden, die polizeilichen Sonderkommandos in zahlreichen Städten z.B. gegen Graffiti-Sprayer, die Verschärfung von Jugendschutz- und Jugendstrafgesetzen. So wurde beispielsweise in Deutschland der § 66 StGB innerhalb der letzten 15 Jahre sechs Mal verschärft, obwohl die Zahl jugendlicher Straftäter in der Zeit immer weiter sank. Hier wäre der Politik und den ausführenden Behörden dringend zu empfehlen, diese Eskalationsspirale des prinzipiellen Misstrauens gegenüber der Jugend nicht weiter hochzusteigen.

       Sie sagten, für die Jugendarbeit sei es wichtig, dass die Jugendlichen mit eingebunden werden in die Kommune. Wie könnte das konkret aussehen?

      Die Jugendlichen sollten das Stadtbild mitgestalten dürfen. Es gibt schon in manchen Kleinstädten Programme für Jugendarbeit, wo den Jugendlichen ganze Häuserwände auf öffentlichen Plätzen oder sogar Busse des öffentlichen Nahverkehrs zur Verfügung gestellt werden, um sie zu gestalten. Das Stadtbild wird dadurch sicher bunter und die Jugendlichen fühlen sich willkommen und eingebunden. Warum sehen die meisten unserer Schulen so lebensfeindlich, kalt und unfreundlich aus? Warum lässt man nicht die Schüler*innen gemeinsam mit Expert*innen, z.B. Innenarchitekt*innen, neue Gestaltungsformen finden für Räume, in denen Schüler*innen wie Lehrer*innen immerhin fast die Hälfte ihrer täglichen Lebenszeit verbringen müssen? Es gibt inzwischen, zum Beispiel in Baden-Württemberg, das Recht der Jugendlichen, bei allen kommunalen Entscheidungen, die sie betreffen, angehört zu werden. Es gibt viele Ideen, wie Kommunen jugendliche Partizipation jenseits der traditionellen Jugendbeiräte und -parlamente kreativ und wirksam gestalten können. Oft fehlt nur der Wille, zur jugendfreundlichen Stadt zu werden. Es ist wie beim Klimawandel: Der Problemdruck ist da, wird aber von vielen Verantwortlichen ignoriert und geleugnet, obwohl die Folgen der Ignoranz allerorts spürbar sind. Denn Politikmüdigkeit, Rechtspopulismus usw. entstehen bei Jugendlichen wie bei ihren Eltern vor allem aus dem Gefühl heraus: Ich habe keinen Einfluss auf meine Umwelt. Ich bin nicht gefragt. Keiner legt hier Wert auf meine Meinung.

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      Daraus entstehen oft Trotzreaktionen, die kontraproduktiv sind. Man muss den jungen Menschen ermöglichen, sich einzubringen und ihre Lebenswelt zu beeinflussen, ihnen zeigen, dass ihre Stimme zählt. Jugendliche sollten so oft wie möglich beteiligt und

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