Auf dem Lande alles dicht?. Mieste Hotopp-Riecke
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Warum steht davon nichts in den Shell-Studien, Jugendsurveys etc.? Ist die Jugendforschung noch up to date?
Nein. Meines Erachtens war die Jugendforschung mehrheitlich schon immer ein Zweig der Forensischen Anthropologie. Erforscht werden in der Regel Problemlagen: Defizite, die (Mehrheits-) Gesellschaft schädigendes Verhalten, von der Mehrheitsgesellschaft abweichende Einstellungen und Taten. Was also als problematisch (an) erkannt wird, bestimmt nicht das potenzielle Objekt der Begierde, sondern derjenige, der die Definitionsmacht innehält. Also: die politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Elite. So wurden in den 1970er Jahren „die Türken“ zum Problem und damit zum Arbeitsfeld für Forscher*innen erklärt, nicht die den Anforderungen eines modernen, zivilisierten Europas nicht gewachsene deutsche Kriegs- und Nachkriegsgeneration. So wird auch Jugendforschung über die Köpfe der Betroffenen hinweg konzeptioniert. Fragen Sie einmal Jugendliche, was sie gerne erforscht haben möchten, auf welche ihrer Fragen sie sich Antworten aus den Reihen der Wissenschaft wünschten. Extremismusprävention, Jugendgewaltkriminalität und Rauschmittelkonsum stehen da sicher nicht in der Prioritätenliste ganz oben.
Die Jugendforschung krankt. Ihre Konzepte sind von vorgestern. Ihr Personal ist den aktuellen Entwicklungen und Szenen nicht gewachsen. Die stets geforderte Distanz zwischen Forscher*innen und den Objekten ihrer Begierde führt nicht nur zu der typischen Stigmatisierung sogenannter bildungsferner, also proletarischer Milieus durch die in der Regel aus bürgerlichen Schichten, universitär sozialisierten und aus weißer Perspektive kulturalisierenden Forscher*innen, sondern führt auch zunehmend dazu, dass die Forschung Jugendliche einfach nicht mehr versteht. Nur die wenigsten Forscher*innen haben zum Beispiel einen Blick für die nonverbalen, nicht einfach zu transkribierenden und dann mit den Standardprogrammen zu analysierenden Kommunikationsformen; die wenigsten machen sich die Mühe, zum Beispiel ausgiebig deren Partys, Konzerte und andere Events einfach mal als Zaungast zu besuchen, deren Medien zu studieren, um zum Beispiel die Sprache zu verstehen, die in vielen Szenen eminent wichtigen Abgrenzungsrituale und ironischen Spiele zu begreifen. Zwischen 1990 und 2000 sind über 30 wissenschaftliche Studien zur Skinheadszene erschienen – ich möchte behaupten, dass kein einziger der professoralen Autoren je mit realen Skinheads gesprochen, ihre Events besucht hat – bestenfalls, und selbst das stellt noch die Ausnahme dar, haben die Professoren ihre Studierenden „ins Feld“ geschickt. Die meisten aktuellen Szenen sind für Forscher*innen Black Boxes: Sie begreifen die Mode, die Sprache, die Gesten, die feinen Grenzlinien zwischen den Musikstilen nicht. Die Basis ihres Wissens ist ihre eigene musikalische Prägung durch Bands wie die Rolling Stones, Neil Young oder Bob Dylan. Musikvorlieben für Grunge, Hardcore, Thrash, Heavy Metal und andere werden gerne unter der Rubrik „Hardrock“ subsummiert; wer sich zu den Skinheads bekennt, ist immer noch rechtsdenkend, Punks sind Antifaschisten. In Zeiten, in denen Skinheads gegen Rassismus demonstrieren, Nazi-Punks linke Skins verprügeln, neonazistische Jugendgangs im Hip-Hop-Sound rassistische Witze vertonen, in einem Techno-Club oder auf der Partymeile von Mallorca Dutzende Männer mit Krämpfen im rechten Arm den Adolf Hitler tanzen, während im Club nebenan an der Eintrittskasse Solidaritätsbeiträge für gewalttätig obdachlos gewordene Geflüchtete gesammelt werden, kann eine derart schablonenhaft konstruierte Jugendsoziologie und -forschung allgemein nur entsprechende Resultate erzielen. Überraschend viele positive Ausnahmen findet man lediglich unter Musikwissenschaftler*innen und Europäischen Ethnolog*innen – aber die betreiben leider nur sehr selten Jugendforschung. Die ist offenbar kein lukratives und förderfähiges Geschäft – wozu auch, wo doch ohnehin fast jeder seine Meinung zur Jugend hat. Schließlich war man selbst auch mal jung und rebellisch – damals, nach dem Krieg.
Was sagt uns die Jugendforschung denn über die Landjugend, Jugendliche und Jugendkulturen jenseits der großstädtischen Ballungsräume?
Nichts. Abgesehen von wenigen tollen, exemplarischen Ausnahmen konzentriert sich die gesamte Jugendkulturforschung auf die Großstädte. Dass es auch in ländlichen Räumen Jugendkultur gibt, viele großstädtische Szene-Aktivist*innen in Dörfern und Kleinstädten aufgewachsen sind, Klubs und andere Locations in ländlichen und kleinstädtischen Regionen oft für die Entwicklung einer Szene eine herausragende Bedeutung hatten, wird kaum wahrgenommen. Auch deshalb haben wir das Projekt WIR. Heimat – Land – Jugendkultur initiiert. Es ist ein kleiner Versuch, den Blickwinkel zu erweitern. Fast eine Million Menschen sind seit der Wende aus Sachsen-Anhalt ausgewandert. Diese große Welle, überwiegend mangelnder wirtschaftlicher Perspektiven geschuldet, ebbt seit drei Jahren ab. Wer aber immer noch abwandert, sind die Jungen. Selbst dort, wo es Arbeit für sie gäbe. Und damit verspielt das Land seine Zukunft, wenn es sich nicht allmählich dafür zu interessieren beginnt, warum die Jungen abwandern und was sich ändern müsste, damit sie es nicht tun oder nach der Ausbildung, dem Studium gerne zurückkehren.
„Heimat“ ist ja ein ideologisch sehr aufgeladener Begriff …
Ich persönlich kann mit dem Konstrukt „Heimat“ nichts anfangen. Vielleicht, weil ich nicht in einem Dorf aufgewachsen bin. Und es nervt mich, wenn einem heute ständig so Patrioten einreden wollen, das sei „unnormal“. Man MUSS doch seine Heimat lieben! Nein, muss ich nicht! Ich muss auch nicht an irgendeinen Gott glauben, um glücklich zu sein.
Jeder soll glauben, an was er will. An Gott, Hitler, die freie Marktwirtschaft oder die SPD – Meinungsfreiheit bedeutet in einer Demokratie, dass jeder Mensch das Recht hat, an wirklich ALLES zu glauben und das auch zu sagen. Dummheit ist nicht grundgesetzwidrig. Ich bin ganz prinzipiell gegen jede Art von Meinungszensur. Meinungsfreiheit bedeutet aber auch, dass mich niemand zwingen darf, irgendeinen Glauben und irgendeine angebliche „Wahrheit“ zu übernehmen und danach zu leben. Wer eine Meinung hat, muss auch aushalten, dass andere eine andere Meinung haben. Das nennt sich Demokratie und Meinungsfreiheit. Und damit haben erstaunlich viele dieser „Patrioten“ offenbar ein Problem, sobald ihnen jemand widerspricht. Sie kennen meist nur eine „Wahrheit“ – die ihre.
„Patriotismus“ ist ein ideologisch aufgeladener Begriff. Die Grenzen zu Nationalismus und Rassismus sind hier fließend. Dann ist Heimat plötzlich nicht mehr der Ort, an dem sich alle wohlfühlen dürfen, sondern nur noch Heimat für die Weißen, für die Deutschen, für die, die seit Generationen dort leben und sich allen Traditionen unkritisch anpassen. Wenn sich heutzutage jemand selbst als „Patriot“ bezeichnet, sollten alle Warnblinklichter angehen. Um „Heimatliebe“ geht es da in der Regel nicht.
Was ich allerdings erst in den letzten Jahren begriffen habe, vor allem bei einer großen Frei.Wild-Fanstudie, die ich durchgeführt habe, mit über 4.000 beteiligten Fans, ist, dass es auch eine Heimatliebe gibt, die nicht rechtsaußen angesiedelt ist, nicht national, sondern regional. Viele Menschen, die nicht nationalistisch, rassistisch oder sonst wie ausgrenzend denken, haben trotzdem ein großes Bedürfnis nach einer regionalen Identität, nicht unbedingt mit ganz Deutschland, sondern mit der Region, in der sie leben oder aus der sie stammen. Das ist fast überall auf der Welt ja was ganz Selbstverständliches, aber eben nicht in Deutschland aufgrund unserer Verantwortung für eines der scheußlichsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Aber ich glaube, dass uns Älteren nichts anderes übrigbleibt, als zu akzeptieren, dass Jüngere nicht nur die Nazi-Zeit im Blick haben, sondern auch den gewaltigen Demokratisierungs- und Zivilisierungsprozess, den Deutschland vor allem seit den 1970er Jahren durchlaufen hat. Stolz auf Deutschland zu sein bedeutet für diese dann eben, stolz darauf zu sein, dass Deutschland kein Nazi-Land mehr ist, sondern ein relativ weltoffenes Land mit einem recht hohen Grad an Umweltbewusstsein, mit vielen Gruppen, die sich zum Beispiel für Menschenrechte, für Geflüchtete und andere Minderheiten, für sexuelle Gleichberechtigung usw. engagieren.
In der Renaissance des „Heimat“-Begriffs und des „Regionalpatriotismus“ liegt also sowohl eine Chance, lokales