Ängste von Kindern und Jugendlichen. Wilhelm Rotthaus

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Ängste von Kindern und Jugendlichen - Wilhelm Rotthaus Störungen systemisch behandeln

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Angst erträglich zu machen oder zu bewältigen, und sowohl seine Lebensqualität als auch seine Entwicklungschancen werden erheblich beeinträchtigt.

      Angststörungen gehören im Kindes- und Jugendalter zu den häufigsten psychischen Störungen. Fast jedes zehnte Kind leidet an einer Angststörung, und es ist heute erwiesen, dass sich Angststörungen nicht »von alleine auswachsen«. Vielmehr sind sie über den Verlauf relativ stabil und stellen einen bedeutenden Risikofaktor für die Entwicklung weiterer psychischer Störungen sowohl im Jugend- als auch im Erwachsenenalter dar. Angststörungen sind aber nicht so laut und unmittelbar auffallend wie andere Störungen des Kindes- und Jugendalters, die mit expansiven Verhaltensweisen einhergehen. Deshalb erhalten viele Kinder und Jugendliche – manche Autoren formulieren: die wenigsten Kinder und Jugendlichen –, die die Symptome einer Angststörung zeigen, eine angemessene Behandlung.

      Obwohl ich glaube, die systemische Grundhaltung nach 35 Jahren systemischer Praxis recht gut internalisiert zu haben und auch über eine recht gute Vielfalt systemischer Methoden zu verfügen, gehörte die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Angst- (und Zwangs-)störungen über lange Zeit nicht gerade zu meinen Lieblingsaufgaben. Das hat sich völlig geändert, nachdem ich an einem Seminar zu diesem Thema teilgenommen hatte und dazu angeregt war, mich mit Angst in ihren unterschiedlichsten Erscheinungsformen näher auseinanderzusetzen und in die Literatur zu Angststörungen – vor allem, aber keineswegs nur in systemische Publikationen – einzuarbeiten. Seitdem begegne ich Kindern, Jugendlichen und ihren Angehörigen, die wegen Angst in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen zu mir zur Therapie kommen, mit großer Freude und ebenso großer Zuversicht. Es würde mich freuen, wenn Kolleginnen und Kollegen durch dieses Buch in ähnlicher Weise angeregt werden könnten.

       2Klinisches Erscheinungsbild

       2.1Vom Phänomen zur Diagnose (und zurück)

       2.1.1 Ängste in der Kindheit

      Die Kindheit ist eine Zeit der lebhaften Entwicklung. In ihrem Verlauf muss das Kind Vertrautes und Sicherheiten immer wieder aufgeben, um Neues kennenzulernen und zu bewältigen. Deshalb ist Angst in der Kindheit häufig und geradezu ein typisches Merkmal dieser Lebensphase. Im Verlauf seiner kognitiven Entwicklung lernt das Kind, potenzielle Gefahren in seinem Umfeld, das es ständig erweitert, wahrzunehmen und auf ihre tatsächliche Gefährlichkeit zu überprüfen. Dafür bedarf es einer geistigen Reife und eines hinreichenden Erinnerungsvermögens, die es möglich machen, Bekanntes von Unbekanntem zu unterscheiden. Dadurch erklärt sich, dass die Angstobjekte im Verlauf der Kindheit wechseln und somit schwerpunktmäßig einem bestimmten Alter bzw. Entwicklungsstand zugeordnet werden können (Gullone 2000).

      Zumindest während der Kindheit ist die Angst vor dem Verlust der Geborgenheit das zentrale, sozusagen »durchlaufende« Thema. Im Alter bis zu sechs Monaten reagieren Kinder auf laute Geräusche häufig mit Angst. Im Alter zwischen sieben und zwölf Monaten zeigen sie Angst vor dem Unbekannten, vor fremden Menschen, fremden Objekten und vor der Höhe. Sie fürchten jetzt die Trennung von den Bezugspersonen, haben Angst vor Verletzungen. Im Alter von zwei bis vier Jahren treten unterschiedliche Ängste auf: Angst vor Tieren, Angst vor Dunkelheit, Angst vor Fantasiegestalten und potenziellen Einbrechern. Sechs- bis achtjährige Kinder fürchten sich vor übernatürlichen Dingen, vor Donner und Blitz, vor dem Alleinsein und zeigen Ängste, die durch Fernsehen und Filme ausgelöst wurden. Im Alter von neun bis zwölf Jahren treten die Angst vor Prüfungen in der Schule in den Vordergrund, wesentlich aber auch soziale Ängste. Letztere sind dann vor allem als Angst vor der Zurückweisung durch Gleichaltrige bei den 12- bis 18-Jährigen häufig. Im höheren Jugendalter sind im Übrigen globale Ängste, etwa vor politischen oder ökonomischen Krisen und Gefahren, anzutreffen.

       2.1.2 Die Angst, dein sorgender Freund

      Die Fähigkeit, Angst zu produzieren, ist eine wichtige Leistung von Menschen. Angst gehört zum Leben; sie ist ein treu sorgender Freund. Angst sorgt für Entwicklung. Sie tritt auf bei neuen Aufgaben, die das Fähigkeitsprofil der oder des Betroffenen herausfordern oder aber die Weiterentwicklung vorhandener Fähigkeiten verlangen. Das dabei auftretende Erleben von Stress und Anspannung macht die Zufriedenheit und den Stolz nach der Bewältigung der Herausforderungen umso größer. Allerdings kann es auch geschehen, dass die Angst und der damit einhergehende Stress ein so großes Ausmaß erreichen, dass die Handlungsfähigkeit weitgehend blockiert wird und Lösungen nicht mehr gefunden werden.

      Wann ist die Angst also gut und förderlich, und wie viel Stress und Angst sind schlecht und hinderlich? Wann ist Angst normal, und wann ist sie pathologisch, sodass sie ernsthaftes Leiden hervorbringt und Entwicklung verhindert? Entscheidbar ist das für den Beobachter, der beispielsweise darauf schaut, wie ein Kind seine Entwicklungsaufgaben bewältigt. Natürlich sind Entscheidungen des Beobachters kulturell geprägt und zudem subjektiv. Da objektive Maßstäbe fehlen und die Grenze zwischen »normal« und »pathologisch« fließend ist, findet unter den Beobachtern in der Regel ein Konsensprozess statt, d. h., die Beurteilung wird durch die Suche nach einer Mehrheitsentscheidung zu untermauern versucht. Dies geschieht im jeweils individuell relevanten Bezugssystem des Kindes durch den Austausch mit Familienangehörigen, Freunden und Bekannten und überindividuell durch die Erarbeitung von Diagnosekriterien, die »gesund« und »krank« zu trennen versuchen. Dabei gilt Heinz von Foersters kluger Satz, dass wir immer nur solche Fragen entscheiden können, die prinzipiell unentscheidbar sind. (Die Frage, ob zwei plus zwei gleich vier ist, können wir nicht entscheiden, weil sie entschieden ist.)

      Aber natürlich ist auch der Betroffene selbst an diesem Beurteilungsprozess beteiligt. Als Beobachter seiner selbst trifft er ebenfalls eine Entscheidung, beispielsweise indem er sagt: »Ich habe so viel Angst, wie sie keiner meiner Freunde und Mitschüler zeigt; sie ist unerträglich.« Er redet dann über die Angst, als würde sie nicht von ihm selbst gemacht, als sei sie etwas Fremdes, das über ihn kommt. Die Verbindung mit seinen eigenen Kognitionen stellt er nicht her, zumeist sind ihm die eigenen internen Prozesse nicht bewusst.

      Schließlich kann es geschehen, dass der Betroffene selbst seinen eigenen Ängsten überraschend gleichmütig gegenübersteht, selbst wenn er in Reaktion darauf seinen Handlungsspielraum sehr einschränkt. In solchen Fällen hat möglicherweise nur seine Umwelt ein Problem damit.

       2.1.3 Diagnose »Angststörung«

      In den Fällen, in denen mehrere Beobachter zu der Überzeugung kommen, dass die von einem Betroffenen produzierte Angst ein quantitativ zu hohes, qualitativ zu bedrängendes und zeitlich zu lang andauerndes Ausmaß hat, stellt die professionelle Helferwelt sprachliche Übereinkünfte wie die ICD1 oder das DSM2 zur Verfügung, nach denen Auffälligkeiten im Erleben und Verhalten gemäß genau definierten Kriterien unterschieden und unter dem Oberbegriff »Angststörungen« klassifiziert werden. Unterschiedliche Ausprägungen von Angst im Kindes- und Jugendalter werden dann mit den Diagnosen »Trennungsangst«, »spezifische Phobie«, »soziale Phobie«, »generalisierte Angststörung«, »Panikstörung« und »Agoraphobie« beschrieben. Natürlich sind auch diese Diagnosen – wie alle Diagnosen – nicht trennscharf voneinander abzugrenzen. Es sind typisierende Beschreibungen, die ein häufiges Zusammentreffen bestimmter Symptome schildern. Das ist nützlich für die Therapeutin, da sich ihr damit ein Fragenhorizont eröffnet. In der Realität aber überschneiden sich die einzelnen Angststörungen in weit über 50 % der Fälle. Das spezielle Störungsbild des einzelnen Kindes oder Jugendlichen trägt meist Kennzeichen mehrerer Angststörungen; hinzu treten zudem häufig sogenannte komorbide Störungen, beispielsweise besonders oft depressive Störungen.

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