Ängste von Kindern und Jugendlichen. Wilhelm Rotthaus

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Ängste von Kindern und Jugendlichen - Wilhelm Rotthaus Störungen systemisch behandeln

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was wird erkannt? Wird der Klient erkannt im Sinne von: »Ich weiß, was du hast und was mit dir los ist!«? Oder wird die Diagnose erkannt im Sinne von: »Ich weiß, was ich therapeutisch machen muss!«? Beide Ideen machen Kommunikation weitgehend überflüssig. Sie verhindern die interessierte, unbefangene Neugierde auf die Art und Weise, wie der Patient seine Welt konstruiert, welche Vorannahmen ihn leiten (und möglicherweise Leid erzeugen) und in welche Verhaltensmuster er eingebunden ist. Es besteht die Gefahr, dass die Störung dann behandelt wird, nicht die Person, die sich als störend bzw. gestört zeigt oder erlebt.

      •Diagnosen verleiten zu der Annahme, dass es diese Störung tatsächlich gibt. Diagnosen sind jedoch lediglich typisierende Beschreibungen von Verhalten – eine Landkarte, die Orientierung ermöglicht, mit der Realität aber wenig gemein hat. Das wissen auch die Autorinnen und Autoren des DSM-IV-TR (Sass et al. 2003), die in der Einführung zur deutschen Ausgabe formulieren: »Dabei verführt die Scheinsicherheit einer operationalen Definition, die ja vielfach nichts anderes als das Resultat eines politisch determinierten Konsensusprozesses ist, dazu, den mit einem psychopathologischen Begriff gemeinten, oft komplexen Sachverhalt als Realität zu akzeptieren und nicht mehr genauer zu überprüfen.« Wir sollten immer im Hinterkopf behalten, so schreibt Ludewig (1996, S. 50), »dass wir es bei den ›Krankheitsbegriffen‹ mit Produkten unserer sinnstiftenden Tätigkeit zu tun haben und nicht mit ontischen, von uns Beobachtern unabhängigen Gegebenheiten. Dies dürfte uns davor bewahren, Menschen allzu rasch zu kategorisieren und Standardprozeduren zu unterziehen. Denn so nützlich diese sind, um das weitere Handeln anzuleiten, so leicht können sie den Eindruck des Gegebenen erwecken, zumal diese ›Generalisierungen Kürzel mit hoher Unabhängigkeit gegen die Art und Weise ihres Zustandekommens‹ sind (Luhmann 1984, S. 138). Beim umsichtigen Umgang mit sinnhaften Festlegungen nehmen wir zwar Ungewissheit in Kauf, bewahren uns aber zugleich vor der ›Verführung der Gewissheit‹ und deren Folgen (vgl. Maturana u. Varela 1987).«

      •Zudem »passt« die Beschreibung im Einzelfall eigentlich nie. Und für die Therapeutin ist wichtig, dass alles, was beschrieben wird, grundsätzlich – wie Wittgenstein sagt – auch anders beschrieben werden kann. Das heißt für die therapeutische Situation, dass ein Symptom grundsätzlich auch als weniger leidvoll und weniger einschränkend angesehen und erlebt werden kann bzw. könnte.

      •Diagnosen können von der Therapeutin als »Herrschaftswissen« missbraucht werden, mit dem er gegenüber seinem Klienten oder Klientensystem eine dominante Position untermauert. Damit würde sie sich weit von einem systemischen Patient-Therapeut-Verhältnis entfernen, das seit der kybernetischen Wende von der Familientherapie zur Systemischen Therapie nicht mehr durch einen hierarchischen, sondern einen kollaborativen Stil und das Bemühen der Therapeutin um eine Begegnung mit seinem Patienten auf Augenhöhe geprägt ist. Die systemische Therapeutin sieht den Patienten oder den »Kunden« als Experten für sich selbst, als »Kundigen«, der allein entscheiden kann, welche der im therapeutischen Gespräch aufscheinenden Lösungen für ihn passend und angemessen ist. Die Therapeutin verstört alte Verhaltensmuster und eröffnet ein Spektrum neuer Perspektiven und Möglichkeiten, vertraut aber darauf, dass der Patient der kompetente Entscheidungspartner ist.

      Die Vorteile von Diagnosen unhinterfragt zu nutzen ist ebenso unangemessen wie die Verteufelung von Diagnosen aufgrund der aufgezeigten Risiken und Gefahren. Wichtig ist, dass die Therapeutin in der jeweiligen speziellen Situation weiß, was sie tut. Sie muss jeweils die Vor- und Nachteile bei ihrem Umgang mit Diagnosen in Bezug auf ihren Patienten und seine Angehörigen im Blick haben und die »Fallen« bzw. »Stolpersteine« kennen, in die sie tappen bzw. über die sie stolpern kann.

      Manche Familien kommen bereits mit einer festen diagnostischen Überzeugung zum ersten Therapiekontakt. Dann ist es notwendig, genau zu hinterfragen, welche Bedeutung die Diagnose für die einzelnen Familienmitglieder hat, welche Inhalte sie genau mit der Diagnose verbinden und was anders sein würde, wenn die Therapeutin möglicherweise zu einer anderen diagnostischen Einschätzung kommen würde. Dieses »Verflüssigen« von Diagnosen kann der entscheidende Schritt dafür sein, gemeinsam mit dem Patienten und seiner Familie nach für dieses System passenderen Lösungen zu suchen.

      Umgekehrt gibt es keinen Grund für die systemische Therapeutin, davor auszuweichen, wenn Eltern eine diagnostische Einschätzung wünschen. Allerdings ist auch in einer solchen Situation zu erfragen, welche Bedeutung eine Diagnose für die einzelnen Familienmitglieder hat und was das für ihre Sicht auf das Kind/den Jugendlichen, für die Prognose des Verhaltens des Kindes und für den weiteren Therapieprozess bedeutet. Der Diskurs über diese Fragen ist ein eminent wichtiges therapeutisches Element, das darüber entscheidet, ob es der Patientin mit ihren Angehörigen und der Therapeutin gelingt, ein gemeinsam getragenes therapeutisches Vorgehen zu entwickeln und das Verhalten des Kindes in seinem Sinne möglichst positiv zu beeinflussen. Spitczok von Brisinski (1999, S. 45) beschreibt mit Hinweis auf Glenn (1984) Diagnosen als soziale Ereignisse und verweist auf die Notwendigkeit, sie als soziale Prozesse anzusehen und nicht als mysteriöse Etikettierungen. Er regt an, die Symptombeschreibungen der möglicherweise infrage kommenden in der ICD-10 aufgeführten Störungen im Gespräch mit der Familie als Einzelhypothesen auf ihr Passen zu explorieren und die dadurch gemeinsam gewonnenen neuen Aspekte für neue Ideen bezüglich des weiteren Vorgehens zu nutzen.

      Im Gespräch mit dem Patienten und seinen Angehörigen können beispielsweise folgende Fragen gestellt werden, die hier im Anschluss an Schweitzer und Nicolai (2010, S. 119) formuliert sind:

       Fragen beim Verhandeln über Diagnosen

      Wirklichkeitsfragen: Wer diagnostiziert was?

      •Wer hat bereits eine Diagnose geäußert, und wie hat sich das auf die einzelnen Familienmitglieder ausgewirkt?

      •Welche Gedanken, Hoffnungen oder Befürchtungen hat die Diagnose bei allen Beteiligten ausgelöst?

      •Ist die Diagnose dem Kind gut bekommen?

      Hypothetische Fragen: Nehmen wir einmal an …

      •Nehmen wir einmal an, die Diagnose sei nicht gestellt worden. Wem ginge es dann besser, wem schlechter?

      •Nehmen wir einmal an, es wäre eine andere Diagnose gestellt worden: Hätte das irgendwelche Auswirkungen auf das Erleben und Verhalten der verschiedenen Familienmitglieder gehabt?

      Zirkuläres Fragen: Über die Diagnose sprechen oder schweigen?

      •Wenn Ihre Frau Ihren Sohn auf die Diagnose anspricht, bemüht sie sich dann mehr um ein angemessenes Verhalten oder weniger?

      •Wenn deine Diagnose im Freundeskreis bekannt würde, hätten die Freunde dann mehr Verständnis für dich oder weniger? Würde der Kontakt zu ihnen enger, oder würden sie sich eher zurückziehen?

      •Um eine möglichst präzise diagnostische Einordnung vornehmen zu können, muss man oft zwei oder drei Diagnosen stellen. Würden Sie das eher als eine große Belastung erleben oder eher als sorgfältiges und hilfreiches Bemühen?

      •Inwiefern kann der Patient mit der Entscheidung des Diagnostikers gut leben?

      •Was soll der Diagnostiker wem (nicht) mitteilen?

      •Was will der Patient wem (nicht) mitteilen?

      Problem- und lösungsorientierte Fragen: Wozu nützen und was behindern Diagnosen?

      •Welche positiven Wirkungen hat die Diagnose (neue Chancen)?

      •Welche negativen Nebenwirkungen hat sie (Einschränkungen, Stigmata)?

      •Angenommen,

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