Ängste von Kindern und Jugendlichen. Wilhelm Rotthaus

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Ängste von Kindern und Jugendlichen - Wilhelm Rotthaus Störungen systemisch behandeln

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      Psychiatrische Diagnosen sind reine Beschreibungen von Auffälligkeiten im Erleben und Verhalten eines Menschen. Sie erklären nichts. Sie geben auch keinerlei Auskunft über die Ätiologie des Beschriebenen. Darin bestand der große Schritt von der ICD-9 zur ICD-10. Die Autorinnen und Autoren der ICD-10 erklärten, man wisse derzeit so wenig über die Ursachen psychischer Störungen, dass man sich entschlossen habe, Überlegungen zu den Ursachen aus den diagnostischen Beschreibungen ganz herauszulassen. Wesentlich aus diesem Grund wählte man auch – wie im Vorwort der ICD-10 ausgeführt – den Begriff »Störung«,

      »um den problematischen Gebrauch von Ausdrücken wie ›Krankheit‹ oder ›Erkrankung‹ zu vermeiden.«

      Denn ein populärwissenschaftliches Konzept von Krankheit ist traditionell mit der Idee verbunden, dass Symptome Anzeichen für zugrunde liegende Prozesse seien, die behandelt respektive beseitigt werden müssten – eine Vorstellung, die für psychische Störungen kaum als zutreffend angesehen werden kann.

      Diese Beschreibungen von auffälligen, symptomatischen Verhaltensweisen, die zu Syndromen zusammengefasst und mit einem diagnostischen Begriff etikettiert werden, basieren auf Unterscheidungen, die ein Beobachter oder eine Gruppe von Beobachtern

      »entweder aufgrund beobachteter Veränderungen in einer Zeitspanne oder aufgrund von Vergleichen mit anderen Menschen, stellvertretend auch mit Normen, gemacht hat. Die Beschreibung von Verhalten beruht auf Unterscheidungen im Phänomenbereich des Verhaltens. Verhalten beschreibt Veränderungen eines Wesens in Bezug auf ein Milieu« (Maturana u. Varela 1987, S. 150).

      Demgegenüber dienen diese Verhaltensweisen aus der Sicht des Individuums der Verwirklichung seiner Struktur in Koppelung mit seiner Umgebung und sind deshalb für dieses Individuum sinnvoll und angemessen. Es besteht also eine Diskrepanz zwischen der Logik des Beobachters und der Logik des diagnostizierten Individuums (Ludewig 1989, S. 32). Diese Diskrepanz zu berücksichtigen ist für die psychotherapeutische Arbeit von hoher Bedeutung (siehe Abschn. 8.5).

      Weil Diagnosen lediglich Beschreibungen des Verhaltens und Erlebens eines Menschen sind, können sie selbstverständlich auch niemals Ursache des beschriebenen Verhaltens sein – wenn man das dennoch annimmt, ist das ein abenteuerlicher Zirkelschluss, der aber umgangssprachlich oft (und leider zuweilen auch von Therapeutinnen und Therapeuten) vollzogen wird, beispielsweise mit Aussagen wie: »Sebastian hat ADHS. Und deshalb verhält er sich so unruhig und unkonzentriert« – Verhaltensbeschreibungen, die zuvor zur Diagnose ADHS geführt hatten. Oder, im selben Zirkelschluss: »Sabine hat Trennungsangst [eine Beschreibung dessen, dass sie sich von ihrer Mutter nicht trennen kann], und deshalb kann sie sich von ihrer Mutter nicht trennen.« Lieb (2014b, S. 25) verweist auf die »sozialwissenschaftlich vertraute Tautologie«, die hier vollzogen wird:

      »Sie besteht darin, dass von sichtbarem Verhalten auf ein systeminternes Konstrukt [die Diagnose] geschlossen wird, durch das dieses Verhalten dann wieder erklärt wird.«

       2.1.5 Chancen und Risiken von Diagnosen

      Psychiatrischen Diagnosen nach ICD oder DSM eröffnen Chancen und Vorteile, die von der systemischen Therapeutin genutzt werden können, wenn sie sich gleichzeitig der Risiken und Gefahren bewusst ist:

      •Diagnosen befreien die Klienten aus Diffusität und Unklarheit und bringen deshalb nicht selten Entlastung (»Wir sind lange von einem Fachmann zum anderen gereist. Aber jetzt endlich wissen wir, was unser Kind hat!«). Es gibt einen Namen für das jeweilige Verhalten, und damit ist es gar nicht mehr so schlimm und machtvoll – überhaupt nicht ironisch gemeint: »Rumpelstilzchen-Effekt«; auch Rumpelstilzchen verlor seine Macht, als sein Name schließlich bekannt wurde. Die Betroffenen erleben: Wir sind nicht die Einzigen, die mit einem solchen Problem zu tun haben. Sie entwickeln Hoffnung und Zuversicht, weil sie nicht zu Unrecht annehmen, dass derjenige, der diese Diagnose gestellt hat, dieses auffällige Verhalten kennt und wahrscheinlich mit Menschen, die solche Probleme zeigen, schon gearbeitet und damit Erfahrung hat.

      •Das ist insofern richtig, als Diagnosen dafür nützlich sind, für die Therapie relevante Erfahrungen, sei es aus Randomized-Controlled-Studien3, sei es aus Einzelfallstudien, sei es aus störungsorientierten Aufsätzen und Büchern, zu vermitteln.

      •Diagnosen werden prognostische Erfahrungen zugeordnet, die teils Erleichterung bringen können, teils aber auch dazu dienen, auf die Notwendigkeit rechtzeitiger, ausreichender und wirksamer therapeutischer Maßnahmen zu verweisen.

      •Schließlich sind Diagnosen unerlässlich im professionellen und wissenschaftlichen Diskurs, sei es in der Kommunikation mit der Krankenkasse, sei es als Basis für wissenschaftliche Untersuchungen. So schreibt Ludewig (1996, S. 50): »In der Praxis steht man vor der unvermeidbaren Notwendigkeit, subjektive Beobachtungen zu konventionell brauchbaren Einheiten zu verallgemeinern, um rasche Verständigung zu gewährleisten und geeignete Maßnahmen einzuleiten.«

      Psychiatrische Diagnosen nach ICD oder DSM bringen aber auch viele gravierende Risiken und Gefahren.

      •So verführen Diagnosen dazu, den Blick auf das Individuum zu lenken, das das auffällige Verhalten zeigt, und die Störung in seiner Person zu verorten. Sie beschreiben die Störung als persönliches Merkmal bzw. als individuelle Eigenschaft, die prinzipiell jedoch schwer zu ändern ist (»Sie ist eine Borderlinerin!«, »Er ist ein ADHSler!«). Systemisch betrachtet, sind die Störungen demgegenüber am einfachsten zu behandeln, wenn man sie in den Beziehungen verortet und wenn man das Verhalten eines Menschen im Kontext seiner wichtigsten Interaktionspartner zu verstehen und zu verändern sucht.

      •Diagnosen psychischer Störungen führen zudem zu einer Aufmerksamkeitsfokussierung auf die diagnostizierte Störung und bergen damit die Gefahr der Festschreibung, der Petrifizierung (Versteinerung), der Etikettierung und der sich selbst erfüllenden Prophezeiung in sich.

      •Diagnosen orientieren den Blick zudem auf die angeblichen Defizite des Einzelnen und seines zugehörigen Systems und schaffen damit im Sinne von Michael Durrant (1996) einen Kontext des Versagens. Hilfreicher ist demgegenüber der Blick auf die Ressourcen, auf das trotzdem Erreichte und auf die mögliche Lösung in der Zukunft. Die potenzielle Lösung als Thema der Therapie schafft einen Kontext der Kompetenz.

      •Diagnosen psychischer Störungen – vor allem verstanden im Sinne von Krankheit (siehe oben) – definieren den Einzelnen als passiv Leidenden (eben im wörtlichen Sinne als »Patienten«), der der Störung ausgeliefert ist. Entsprechend wird dann formuliert: »Sie hat eine Angststörung.« »Er hat eine Störung des Sozialverhaltens.« Systemisch betrachtet, ist der Einzelne demgegenüber ein aktiv Handelnder: »Er verhält sich sozial auffällig (psychotisch, depressiv u. a.).« »Sie zeigt Angst.« Oder: »Sie angstet«, um einen Begriff zu nutzen, den Christoph Thoma (2009) schon im Titel seines Buches Angsten und Entangsten nutzt. Der Patient handelt aus systemischer Sicht in der beschriebenen Art aus »gutem Grund«, denn andernfalls würde der Betroffene nicht so handeln.

      •Diagnosen werden von vielen Menschen mit einem traditionellen, eher somatisch geprägten Krankheitsbegriff verbunden, dem zufolge der Patient für die Lösung des präsentierten Problems nicht verantwortlich ist, sie vielmehr im Zuständigkeitsbereich der Therapeutin liegt. Das schafft eine vermeidbare Hürde, da solche Menschen erst davon überzeugt werden müssen, dass nur sie selber – zusammen mit ihren Angehörigen – die gewünschten Änderungen vollziehen können. Die systemische Therapeutin sieht sich lediglich in der Lage, Anstöße zu Selbstorganisationsprozessen im Klientensystem zu geben, die dessen Mitglieder eigenständig verwirklichen.

      •Etymologisch

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