Eine Jugend war das Opfer. Thilo Koch

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Eine Jugend war das Opfer - Thilo Koch страница 11

Eine Jugend war das Opfer - Thilo Koch

Скачать книгу

      Alles mußte diesem Ziel unterstellt werden. So trat er auch in die HJ ein; der vorgefaßte Lebensweg sollte nicht aus Bequemlichkeit gefährdet werden. Hatte er es auch bis heute nicht zu einer vollständigen Uniform gebracht und war er deshalb auch schon von außen als räudiges Schaf kenntlich, so hatte ihm doch, besonders am Anfang, manches Spaß gemacht; namentlich Sport und Fahrten. Vor Kundgebungen, Schulungsabenden und Propagandamärschen, wo man einen Wimpel oder einer Trommel heiser singend nachzutrotten hatte, drückte er sich regelmäßig.

      Thomas politischer Werdegang war also alles andere als mustergültig. Aber erst jetzt, als man ihm einen schönen Plan, einen großen Wunsch verderben wollte, da er politisch unzuverlässig sei, begann seine fügsame Gleichgültigkeit einer bewußten Opposition zu weichen; seine Kritik konnte nicht länger theoretisch bleiben, sie mußte praktisch gelebt werden, wenn er sich nicht selbst untreu werden wollte.

      Nein, er mußte nach England, wenn auch alles sich dagegen verschwor. Es würde sich so bald nicht wieder eine solche Gelegenheit bieten, den Gesichtskreis zu erweitern und musikalisch so entscheidende Anregungen zu empfangen, wie sie ihm Gehrmann von der Begegnung mit Professor Johnson versprochen hatte.

      Die Mutter kam herauf, ein frisch gebügeltes Hemd über dem Arm, das sie in den Koffer legte. Sie strich Thomas über die Hand und sagte:

      „Hoffentlich kommst du recht reich an Erlebtem zurück, mein Junge. Aber auch mit einer tiefen Sehnsucht nach deiner Heimat, deinem Elternhaus, denn hier ist der Frieden, und den findest du nirgends sonst in der Welt.“

      Thomas blickte sie fest an:

      „Hab keine Sorge, Mutter, es wird alles recht geschehen.“

      7.

      Studienrat Dr. Melk saß in seiner kleinen Studierstube bei der Lampe. Er bewohnte eine einfache Wohnung am Rande der Stadt. Für das Nötigste im Haushalt sorgte eine Witwe aus der Nachbarschaft, Frau Schnelle, die aber nur vormittags, in des Doktors Abwesenheit, wirken durfte. Sie kaufte auch für ihn ein. Mittagbrot aß er im „Goldenen Löwen“, und was er sonst brauchte, machte er sich nun schon lange allein. So lebte er karg und ohne Luxus — ein entsagender Philosoph, abgesehen vielleicht von einer Neigung für konzentrierte Geistigkeit, auch in Form von Getränken. Dennoch hatte ihn nie jemand unbeherrscht gesehen.

      Nicht immer hatte Dr. Melk so einsam gelebt. Von seinem früheren Leben wußte man freilich in Brösenheim nur wenig. So frei und offen er sonst über alles Auskunft gab — warum er nach Brösenheim gekommen war, und was vorher geschah, das wußte nur der Oberstudiendirektor Sternhaus in groben Umrissen aus den Akten, worüber er jedoch Stillschweigen bewahrte.

      Dr. Melk war als geschiedener Mann vor über zwanzig Jahren aus Berlin nach Brösenheim gekommen. Wer ihn hier sitzen sah, bei vielen Büchern und Schriften, Tabaksqualm um sich blasend und manchmal die widerspenstige graue Mähne mit den feinen schlanken Händen zurückstreichend, im schäbigen Rock, der hätte in ihm nicht den glänzenden Gesellschafter wieder erkannt, der in Berlin an der Seite seiner schönen Frau ein großes Haus geführt hatte. Seine literarischen Abende waren berühmt gewesen, und es hatte als Ehre gegolten, im Hause Melk zu verkehren. Dr. Friedrich Melk war damals eine der jungen Hoffnungen der philosophischen Fakultät an der Universität. Seine Frau war sehr reich und eine gefeierte Sängerin, die nie ganz darauf verzichten konnte, vor dem großen Publikum zu glänzen. Daraus erwuchs dann auch alles Unglück. Kurz bevor er die Professur bekommen sollte, war in wenigen Wochen alles um ihn her zusammengestürzt, und nur langsam hatte er sich aus den Trümmern aufgerafft, um ein neues Leben zu beginnen. Die Umstände, die zu der Trennung von seiner Frau geführt hatten, stellten ihn gesellschaftlich bloß und machten ihn arm. Er verzichtete auf allen Gelehrtenehrgeiz, lebte zunächst einsam und verborgen und nahm endlich ein Anerbieten an, das ihm ein Freund in einem Provinzialschulkollegium verschaffte. Dieses Anerbieten betraf seine jetzige Lehrerstelle am Gymnasium in Brösenheim.

      Als ein langsam Genesender fand er sich nicht leicht in die neue Umgebung. Bald aber machte ihm der Schuldienst mehr Freude, als er je für möglich gehalten hatte, und mit der Zeit nahm er auch die eine oder andere eigene Arbeit wieder auf. Von dem Ehrgeiz, in der Wissenschaft einen Namen zu erwerben, wandte er sich ab und verbrauchte seine Kraft ganz im Dienste der Erziehung seiner jungen Schüler und in einsamer, stiller Arbeit, über die er sich höchstens dem Buchhändler Frey gegenüber äußerte, wenn er ein einschlägiges Buch bestellte.

      Seinen Schülern wollte er mehr sein als eine unnahbare Lehrkraft. Viele hatten in ihm den väterlichen Freund kennengelernt. Mehr als ein verzweifelter junger Mensch hatte schon in seiner verqualmten Studierstube gesessen. Immer wußte Dr. Melk einen Weg. Oft unterstützte er nicht nur mit Rat, sondern, wo es nötig war und soweit er es selbst konnte, auch materiell. So galt er von Sexta bis Prima als Rettungsanker, und er hatte die rechte Art, einem Schüler keine Bitte schwer werden zu lassen.

      Nur eine Leidenschaft hatte er. Das waren Bücher. Was er an Mitteln erübrigen konnte, trug er in die Buchhandlung Frey. Seine kleine Wohnung war eine einzige, erlesene Bibliothek. Die Anordnung der Bände war freilich eine genialische, in der sich niemand zurechtfand außer ihm selbst. Er brauchte nur den Arm auszustrecken und fand mit nachtwandlerischer Sicherheit das Gesuchte, wohingegen er nach den Gegenständen des täglichen Gebrauches oft lange vergeblich fahndete; so nach Tassen, Kragenknöpfen, Hut und Stock. In höchst bösartiger Weise schienen sich diese Dinge immer vor seinen zuerst geistesabwesenden, dann aufmerksamen und schließlich ungehaltenen Nachforschungen zu verkriechen. Daran hatte die säubernde Hand der Witwe Schnelle viel schuld. Deswegen durfte sie nicht in sein Studierzimmer. Wenn etwa jemand versucht hätte, dessen individuelle Ordnung in eine übliche zu verwandeln, der würde damit den Zorn des Doktors erregt haben, wie es mit nichts sonst möglich gewesen wäre. Das scheinbare Chaos war für ihn ein logisch geordneter Kosmos mit eigengesetzlichen Schichtlinien und innerer Systematik.

      So hauste er einsam in seinem Reich.

      Dieser Abend jedoch sollte ihm noch einen Besuch bringen. Unwillig über die Störung, öffnete er. Kaum aber hatte er erkannt, wer in das Licht der Diele trat, rief er freudig aus:

      „Ach, Herr Frey! Ein seltener, aber willkommener Gast. Kommen Sie herein in die Höhle des qualmenden Ungeheuers.“

      Melk konnte durchaus leutselig sein und redete manchmal sogar gern, auch mit sich selbst — das eigentlich am liebsten.

      „Ich störe Sie“, sagte Frey etwas linkisch, indem er auf den Arbeitstisch wies, „weiß ja selbst, wie ungern man sich da wegholen läßt.“

      „Sie stören nie“, erwiderte Melk gemütlich. „Setzen wir uns. Ach so, Moment bitte, ich muß erst den Stapel Zeitschriften hier in die Ecke bringen . . . So, jetzt ist der Stuhl frei. Und nun wollen wir plaudern. Halt, mit Dampf geht es besser; hier — nein, na, wo sind sie denn? Ach so, ja, hier: helle Schlanke aus Hamburg, die mögen Sie doch am liebsten, nicht?“

      „Sehr liebenswürdig, Herr Doktor. Danke sehr!“ Frey griff vorsichtig mit den Fingerspitzen in die Kiste und hob mit genießerisch heraufgezogenen Augenbrauen die lange, schmale Zigarre an die Nase. Melk drehte sich zu seinem Arbeitstisch um und nahm von einem riesigen, überfüllten Aschenbecher einen erloschenen Stummel.

      „Ich bleibe lieber bei meiner starken Dunklen“, sagte er dabei. „So, und hier haben wir auch einen kräftigen Schluck.“

      Er griff in eine Ecke, die von der Stehlampe nicht ganz ausgeleuchtet wurde, und brachte eine Flasche Kognak hervor. Beim Einschenken sprach er dann munter fort:

      „Ja, Herr Frey, nun sind die Ferien wieder vorüber. Na, Sie hatten ja sowieso keine.“

      „Sie

Скачать книгу