Eine Jugend war das Opfer. Thilo Koch
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Melk lachte nur: „Wir wissen doch beide, Herr Direktor, daß Nietmanns Wort beim PSK geheiligt ist, weil er die niedrigste Parteibuchnummer all der Herren dort hat.“
„Lieber Kollege“, Sternhaus sah sich ängstlich um, „Sie reden sich bestimmt noch um Ihren Kopf. Ich bitte Sie, seien Sie vorsichtig. Das sage ich einmal aus Freundschaft zu Ihnen und zum anderen aus Egoismus. Ich kann Sie im Kollegium unmöglich entbehren, ohne daß die Frequenz der ganzen Schule sinkt. Und dann machen Sie es auch mir nur schwer auf meinem Posten. Ich habe keinen leichten Stand, wie Sie wissen, weil ich früher einer Partei angehörte, die den Nationalsozialismus bekämpfte. Hätten wir genug Lehrer in Deutschland, wäre ich längst durch einen politisch einwandfreien, sicheren Mann, möglichst durch einen ‚Alten Kämpfer‘, ersetzt worden. Auch so konnte ich mich nur halten, weil ich Pg wurde und SA-Mann.“
„Stört Sie der Dienst nicht?“
„Dieser Dienst ist gar nicht so schlimm. Ich übernahm den Unterricht der SA-Kameraden jeden Sonntagmorgen im Rahmen der vormilitärischen Ausbildung. Es macht mir fast Spaß, den Leuten etwas Schießlehre beizubringen. Im übrigen verzichte ich allerdings gern auf den Außendienst. Das Tam-Tam liegt mir gar nicht, zumal ich in dieser braunen Uniform wirklich unmöglich aussehe. — Sie haben mich ja neulich am 1. Mai in Reih und Glied gesehen“, fügte er hinzu, als er Melks Lächeln bemerkte.
„Hm, Herr Direktor, ich verstehe nur nicht, warum Sie sich zu etwas zwingen, was Ihnen so zuwider ist.“
„Warum? — Lieber Kollege, in welcher Welt leben Sie! Wir sind die Generation der ‚Umwertung aller Werte‘: Drei verschiedene Eide haben wir schon geleistet — auf das Kaiserreich, auf die Republik und auf das Dritte Reich. Es kommt auf einige Metamorphosen mehr oder weniger nicht mehr an. Wichtig ist nur, ob es dem Vaterlande dient — und das ist, wenn nicht aller Augenschein trügt, im Hinblick auf den letzten Eid kaum zu bezweifeln —, und wichtig ist zweitens, ob es mir selbst dient, mir und meiner Familie. Meinen Sie, ich wäre bei einer anderen Einstellung noch im Amt?“
„Wahrscheinlich wären Sie entlassen oder pensioniert worden“, sagte Melk langsam, „aber wäre das wirklich schlimmer, als diese Windfahnenpolitik? — Verzeihen Sie das Beispiel!“
„Ich kann Ihre Wahrheiten vertragen, Melk. Sie wollen sagen: ‚Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?‘ — Sie berühren da einen wunden Punkt, aber sehen Sie, die Verhältnisse sind immer stärker als man selber. Ich war ein lustiger Burschenschaftler als Student, eine Zeit, die ich um keinen Preis missen möchte. Jetzt habe ich drei Jungen auf der Universität, wo leider nicht mehr der alte Geist der Korporationen herrscht, aber doch immer noch eine gewisse Fidelitas, wie sie schreiben und erzählen. Sollen es meine Söhne schlechter haben, als ich es hatte? Nein. Ich schicke ihnen also einen anständigen Wechsel. Dazu will meine älteste Tochter heiraten; meine Frau ist nicht ganz anspruchslos — für alles muß ich aufkommen. Außerdem aber kann ich ohne die Schule nicht froh sein; ich fühle mich wohl in meinem Amt. Soll ich das alles zum Einsturz bringen durch — nun durch Gesinnungstüchtigkeit?“
„Zweifellos eine Frage, vor der wir heute alle stehen“, bestätigte Melk. „Ich in meiner Unabhängigkeit bin kein Maßstab. Aber Pastor Machenberg lebt in dem gleichen Konflikt. Ich bewundere seine redliche Haltung, denn es geht bei ihm nicht nur um Materielles, sondern zugleich um Tod oder Leben seiner Frau. Vielleicht, Herr Direktor, sollten wir uns an dieser Haltung ein Beispiel nehmen; denn wer weiß, ob die Verhältnisse, um deren Bestand willen wir uns heute immer wieder ducken, nicht gerade dadurch, daß wir uns ducken, einer vollständigen Auflösung und Zerstörung zugetrieben werden? Ich will mich deutlicher ausdrücken: Im heutigen Deutschland erleben wir viel, wogegen sich jedes anständige Gefühl empört. Dennoch schweigen wir, ja stellen uns noch dazu in die Reihen der Heilrufer, damit die Wut der Gewaltherrschaft sich nicht über unserem Haupte entlade. Wir glauben es unserer Familie schuldig zu sein, wir wollen ihr ein Wohlergehen erhalten, das wir uns nur in den alten, liebgewordenen Verhältnissen vorstellen können. Wir hängen an geliebten Menschen, an der Heimat, an Kunst und Wissenschaft — alles das wollen wir uns erhalten. Wir erreichen das im Augenblick, indem wir uns fügen. Aber könnte nicht vielleicht gerade dadurch eine viel umfassendere Vernichtung eben dieser geliebten Menschen, der Heimat, der schönen und nützlichen Dinge, der Kunst, der Wissenschaft herbeigeführt werden?“
Sternhaus hörte aufmerksam zu und vergaß sogar das Umherspähen. Er räusperte sich.
„Wenn ich Sie recht verstehe, meinen Sie, daß das Regime, unter dem wir uns jetzt ducken, uns dem Verderben zusteuert. Also einem Krieg? Und zwar einem unglücklichen Krieg?“
„Kriege sind immer unglücklich“, sagte Dr. Melk. „Das weiß ich, seit ich einen mitgemacht habe. Sie sind auch für den Sieger kein Glück, oder doch ein teuer erkauftes, ein zu teuer erkauftes.“
„Das zu beurteilen steht Ihnen als Historiker eher zu als mir, dem Naturwissenschaftler. Aber sonst sehe ich nicht so schwarz wie Sie. Es stecken einige gesunde Absichten in der neuen Entwicklung. Als alter Burschenschaftler kann ich zum Beispiel nur bejahen, daß endlich verwirklicht wird, was die Sehnsucht vieler Jahrhunderte war: Alle Deutschen in einem Staate zu vereinigen. Auch daß man der Raumnot endlich Herr werden will, ist einfach das Gebot der Stunde. Wir sind ja wohl unbestreitbar ein Volk ohne Raum.“
„Aber nicht das einzige! In dieser Not sind die meisten Völker des alten Europa. Sie ist eine Hauptursache aller sozialen, wirtschaftlichen und sogar seelischem Leiden der modernen Welt. Freilich ist sie bei uns besonders akut, aber es kann nicht gut gehen, wenn ein Volk diese Not mit Radau und Rücksichtslosigkeit blitzschnell und nur für sich allein beseitigen will, also durch einen Eroberungskrieg.“
„Hielten Sie das für so verwerflich? Alles Leben ist Raub. Sie müssen es mir als Biologen zugestehen, daß ich den Kampf ums Dasein mit allen Mitteln auch in der Menschengeschichte als beherrschendes Prinzip ansehe.“
Melk blieb stehen: „Hier sind wir bei einer Kernfrage angelangt.“
Die Allee war zu Ende, und sie gingen wieder zum Schloß zurück. Dr. Melk fuhr fort:
„Wenn Sie den Menschen biologisch begreifen, müssen Sie jede Sittlichkeit als Schwäche, als lebensbeeinträchtigenden Irrtum verwerfen, denn wenn bloß Naturtriebe ihn leiten, kann man von ihm keinerlei Einschränkung seines Egoismusʼ verlangen, worauf alle Ethik beruht. Humanität müssen Sie dann als nutzlose Gefühlsduselei ablehnen.“
„Sie führen mir meine Worte in extremer Konsequenz vor. Ich will das gleiche tun: Lehnen Sie den Kampf ums Dasein als Grundprinzip für das Handeln auch des Menschen ab, dann müssen Sie zu den Indern gehen, dürfen kein Tier mehr töten, um es aufzuessen, ja, Sie müssen sich wie ein Fakir dem Hungertode weihen, weil Sie ja auch in der Pflanzenkost Lebendiges verzehren.“
Melk lächelte: „Das kommt Ihnen absurd vor; mir auch, denn wir haben nun einmal einen zu starken Willen, um ihn in uns selbst verneinen zu können. Wir sind keine Inder. Aber wir wollen uns hüten, nur unsere Art allein als ‚gottgefällig‘ anzusehen.“
„Mit dem konsequenten Denken wären wir also zu unvereinbaren Endpunkten gelangt.“
„Ja, es ist hier wie immer nichts mit der Konsequenz. Leben ist nicht Mathematik, es läßt sich nicht ausrechnen.“
„Also schreiten wir zum Kompromiß. Ich gebe zu, daß der Kampf ums Dasein beim Menschen sich nicht in den einfachen Formen abspielt, die wir in der Natur sehen und gern als grausam bezeichnen oder als bloß zweckmäßig abtun. Der Mensch macht