Eine Jugend war das Opfer. Thilo Koch

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Eine Jugend war das Opfer - Thilo Koch

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ihr noch keine weise Mäßigung erwarten. Zuerst müssen wir mächtig sein, um jeden Preis, auch wenn darüber erst einmal manches andere zugrunde geht. Vieles ist sowieso reif dafür. Zuerst müssen wir wieder eine Weltmacht werden.“

      Sie waren inzwischen bei der Buchhandlung angelangt, und Thomas sagte:

      „Wir sprechen nicht das erstemal darüber, Peter. Deinen persönlichen guten Willen verkennt keiner. Aber ob dein guter Wille auch Gutes bewirkt, bezweifle ich manchmal. Wir werden unsere Lage nicht verbessern, wenn wir ein Rachegeschrei anstimmen, das alte Gegensätze nur immer tiefer aufreißt. Man kann kein Unrecht wiedergutmachen, indem man selbst ein neues und größeres Unrecht begeht. Damit wird man schuldig. Und erfährt man nicht auch im kleinen an sich selbst, im persönlichen Leben, daß jede Schuld sich rächt? Ich glaube daran, daß nicht skrupellose Berechnungen den wahren Erfolg bringen, sondern daß es eine große, ausgleichende Gerechtigkeit gibt, die jedem sein Teil zumißt. Diese ausgleichende Gerechtigkeit zeigt sich selten sofort und nie ganz deutlich für uns Menschen. Selbst glänzende Erfolge können täuschen. Bei dem allgemeinen Taumel von Ueberheblichkeit kann ich nicht mit.“

      Verdrossen, wenn auch etwas nachdenklich geworden, wandte sich Peter zum Gehen: „Du gehörst auch zu den ewigen Meckerern“, sagte er, „und fast tut es mir leid, daß ich für dich eintrat, als man bei mir nachfragte, ob seitens der HJ Bedenken bestünden, daß du als Austauschschüler nach England gehst. Man hält dich für politisch unsicher und nicht für geeignet, das neue Deutschland im Ausland zu vertreten.“

      Thomas war betroffen: „Wieso? Macht man denn Schwierigkeiten? Will man mich nicht fahren lassen?“

      „Ich sagte es“, entgegnete Peter kurz und ging.

      Mutter Frey merkte es ihrem Sohne gleich an, daß ihn etwas bedrückte. Sie wußte sich ihm in einer besonderen Weise verbunden. Die musikalische Begabung und eine damit zusammenhängende Empfindsamkeit hatte er von ihr. Sie war sehr abhängig von der Umwelt. Alle Feindseligkeit scheuend, war sie nur froh in einer Atmosphäre reinen Wohlbehagens. Nicht, daß sie sich leicht umwerfen ließ von kleinen oder großen Unerfreulichkeiten — aber sie war dann gedrückt und konnte nicht frei atmen. Heitere Helligkeit sollte um sie sein, und diese hatte sie sich in ihrem Haushalt immer zu schaffen gewußt, ohne daß sie dafür besondere Anerkennung forderte. Die Zufriedenheit ihres Mannes und ihre Kinder waren ihr Belohnung genug. Immer gab es viel Blumen im gemütlichen Obergeschoß des alten Hauses der Buchhandlung Frey, in dem die Familie wohnte. Immer auch hatte sie für Ruhe gesorgt, wenn ihr Mann über den Büchern saß, hatte an manchen Tagen mehr in der Buchhandlung gestanden als er, wenn er einmal ganz verlesen war. Ihr Haushalt lief mit lautloser Selbstverständlichkeit. Doch was sie über eine gute Hausfrau hinaus noch war, galt der Musik. Im Wohnzimmer stand das alte Klavier, das sie von ihrem Vater geerbt hatte, welcher Lehrer und Kantor gewesen war. An dieses Klavier knüpften sich für sie viele liebe Erinnerungen. Thomas hatte darauf von ihr die ersten Unterweisungen — noch im Kindesalter — bekommen, hatte dann lange darauf geübt und auch schon recht hübsch gespielt, bis er zur Orgel fand, der er dann ganz verfiel. Jetzt spielte er nur noch manchmal darauf, um der Mutter eine Freude zu machen. Meistens saß er an der Orgel der Brösenheimer Kirche. Manchmal, wenn sie Zeit hatte, folgte ihm die Mutter dahin, ohne daß er es merkte, und freute sich seiner Fortschritte. Dann setzte sie sich still in eine Kirchenbank und lauschte. Ueberhaupt tat sie all das in der Stille, wovon andere Menschen viel hermachen. Andererseits sprach sie sich gern einmal aus, wenn sie irgend etwas bewegte.

      Auch Thomas hatte etwas von diesem Bedürfnis nach Resonanz. Er konnte schlecht mit sich allein abmachen, was ihn bedrückte oder freute. Wenn sich etwas nicht dazu eignete, um mit den Eltern oder Freunden besprochen zu werden, schrieb er seine Gedanken darüber in ein kleines Büchlein. Sein heimlichstes Du war dieses Tagebuch. Hatte er etwas in Worte gefaßt, was ihn bedrückte, fühlte er sich erleichtert, wenn die Formulierung auch unklar und unvollkommen war. Darüber hinaus gab es viel, was sich nicht gedanklich fassen lassen wollte. War es quälend, so fand er am ehesten bei der Orgel Beruhigung und Klärung, nicht zuletzt dadurch, daß er sich jedes sentimentale Schwelgen in Akkorden versagte und sich auch in der freien Improvisation streng an das innere Gesetz seines Instruments hielt.

      Für die Frage allerdings, die ihn im Augenblick bewegte, konnte er weder bei Tagebuch noch Orgel Antwort finden. Was hatte die Bemerkung Peter Möhlens zu bedeuten, und welche Folgen konnte es haben, wenn die HJ ihn für unwürdig erklärte, als Austauschschüler nach England zu gehen? Darüber besprach er sich nun mit der Mutter. Sie war noch bestürzter als Thomas selbst, denn alle Konflikte scheute sie mit einem geradezu körperlichen Unbehagen. Alles sollte friedlich sein.

      Vater Frey blätterte in einer. Fachzeitschrift und meinte, man müsse erst abwarten, was daran wahr sei. Er traue den Bengels schon zu, daß sie sich erst einmal spreizten, um ihre Macht zu beweisen.

      „Peter Möhlen hat es befürwortet, Vater“, bemerkte Thomas.

      „Ach, geh mir mit Möhlen.“ Der Vater stand auf und trat ans Fenster. „Der junge Mann fühlt sich schon jetzt als General. Soll warten, bis er wirklich einer ist.“

      „Nein, Vater, Peter ist kein schlechter Kerl. Er ist eben durch und durch eine soldatische Natur. Darum hat er Freude an dem Lebensstil, den man heute will.“

      „Ja, mein Junge, du bist in die verkehrte Zeit hineingeboren. In ein musisch betontes Zeitalter gehörst du. Etwas fehlt eben immer: Mein Vater und ich, wir standen zu schwer im materiellen Lebenskampf, als daß wir hätten entwickeln können, was in uns war an Sehnsucht nach schöpferischer geistiger Arbeit. Es blieb beim Lesen. Zum Studieren reichte das Geld nicht; vielleicht auch nicht die Gaben. Du bist nun so weit, Thomas. Du hast die geistigen Voraussetzungen, und für die materiellen kann ich sorgen. Das ist die schönste Erfüllung meines Lebens.“

      Elisabeth Frey lehnte den Kopf an die Schulter ihres Mannes. Sie waren noch immer zärtlich zueinander wie ein Liebespaar. Er legte den Arm um sie.

      „Ja, Mutter, ohne dich hätte ich es nicht geschafft. Aber nun sind wir über den Berg. Nur die Zeit macht mir manchmal Sorge. Wird Thomas in ihr so leben können, wie wir es wünschen? Es sieht recht günstig aus, aber ob nicht wieder ein Krieg alles zerstört?“

      „Vater, wie kannst du das denken?“ Elisabeth Frey richtete sich erschrocken auf. „Wir wollen doch keinen Krieg. Wissen wir nicht, wie furchtbar er ist? Zwanzig Jahre liegt er erst zurück. Auch die Männer an der Spitze kennen ihn; auch sie können ihn nicht wollen.“

      Vater Frey strich ihr begütigend über das Haar. „Natürlich nicht. Ich glaube auch nicht daran. Es kann nicht sein.“

      Zu Thomas gewendet fuhr er fort: „Stelle dich nur nicht zu schlecht mit der HJ. Du mußt hindurch, um später in die Partei zu kommen, denn wenn du ins Berufsleben treten wirst, kannst du ohne Parteigenossenschaft nicht einmal mehr Straßenkehrer werden. Ich überlege sogar, ob ich deinetwegen nicht auch noch in die Partei gehe, obwohl mir der ganze Kram nicht liegt. Aber es soll doch nichts versäumt werden, was dein Fortkommen unterstützt.“

      „Ach, Vater“, sagte Thomas, „sorge dich nicht zu sehr. Ich will schon aus eigener Kraft durchkommen, wenn du mir am Anfang hilfst.“

      Der alte Frey lächelte mit heimlichem Stolz. „Aber verfall mir nicht zu sehr der Musik, hörst du! Vergiß nicht, daß mal ein Literaturoder Philosophieprofessor aus dir werden soll!“

      „Er wird es schon recht machen“, schloß die Mutter.

      3.

      Die letzte Schulwoche vor den großen Ferien neigte sich dem Ende zu. Ueber Brösenheim lag noch immer freundlicher Sonnenschein. Das kleine Städtchen inmitten von

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