Eine Jugend war das Opfer. Thilo Koch
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Im warmen Schein der untergehenden Sonne war Thomas oft zwischen diesen Feldern gegangen oder im Walde, wo die Kiefernstämme dunkelrot, wie von innen heraus, im Abendlicht glühten. Diese Wege hatten ihm die Heimat erst so ganz lieb und vertraut gemacht. Jede Blume hätte er streicheln mögen und jede der hellen schlanken Birken umarmen. Oft lag er stundenlang in den Wiesen oder auf dem warmen Waldboden und atmete den kräftigen Duft der Erde und des Baumharzes, der Tannennadeln und Gräser, lauschte dem Rauschen der Baumkronen, die sich langsam und gleichmäßig auf ihren hohen, schlanken Stämmen wiegten. Er sah den kleinen Wölkchen nach, die schnell vorüberzogen, und er betrachtete mit lächelnder Aufmerksamkeit den großen schwarzen Käfer mit glänzendem Panzer, der seine Gewichtigkeit durch das Heidekraut schob. Sein ganzes Entzücken galt den Schmetterlingen, diesen zartesten Gebilden eines lichten Sommers. Wenn ein Falter die Farne umgaukelte wie ein Hauch, dann konnte er ganz in die Betrachtung dieses Spiels versinken. Oft wußte er nicht mehr wohin mit all seinem Gefühl, mit dem Dank für all diese Schönheit. Manchmal hatte ihn Karl begleitet; aber der Freund empfand nicht so tief, was ihn selbst trunken und selig machen konnte.
So ging Thomas diese Wege meistens allein. Kennengelernt hatte er sie mit dem Vater, an dessen Hand er zuerst hinausgekommen war in die große Natur. Manchmal war auch die Mutter mit ihm gewesen oder Christa, mit der er hier gespieltl hatte; auch dann und wann andere Kinder. Aber seit Thomas das Nachdenken liebte, störten ihn laute Spiele und ein Redenmüssen in diesem idyllischen Reich. Bald hatte er seine eigenen Winkel und kleinen Steige, wo er vor allen Menschen sicher war.
Und doch, sein einsames Glücklichsein in der Natrur blieb nicht immer so ungetrübt. Langsam erwachte in ihm die Sehnsucht, seine Gefühle und Gedanken mitteilen zu können — leise und in vertrautem Gespräch mit . . . ja, mit wem? — Erst ziemlich spät nahm für ihn dieses ersehnte Du die Gestalt eines Mädchens an. Zunächst war es ein reines Wunschbild mit unbestimmten Zügen.
Nach solchen Nachmittagen in der Natur ging er oft noch in die Kirche und versuchte in der Orgel aufklingen zu lassen, was ihn bewegte. Oft spielte er, bis es ganz dunkel war in dem hohen, kühlen Raum. Aber immer weniger glücklich verließ er das geliebte Instrument. Je älter er wurde, desto stärker zeigte sich ihm eine schmerzende Spannung zwischen der seligen Verträumtheit draußen in den Feldern und der kühlen Klarheit seiner Orgelmusik.
Einmal geschah es dann, daß an einem Abend, da er bei der Orgel seine zerfließenden gegensätzlichen Stimmungen fassen wollte, plötzlich ein Mädchen hinter ihm stand, als er die Hände von den Tasten nahm, den verschwebenden Klängen nachlauschend.
Ein kleines Geräusch machte ihn aufmerksam. Das Mädchen hatte sich heimlich wieder entfernen wollen. Nun blickten sie einander an; er erstaunt, sie verlegen. Zögernd kam sie einige Schritte zurück und sagte:
„Verzeih bitte! Ich — — — ich habe die Musik gehört draußen, und es war so schön. Ich wollte wissen, wer da spielte und habe dich nun belauscht.“
Sie schien noch weitersprechen zu wollen, aber dann blieb sie doch stumm, sah vor sich nieder und strich nur mit der Hand leise über das Holz der nächsten Kirchenbank. Thomas war so verwirrt, daß er nur wie gebannt auf diese Hand blickte, die das dunkle Holz streichelte. Er raffte sich endlich zu einer Antwort auf, aber als er herausbekam: „Ich — das ist — —“, da sagte sie gleichzeitig leise „Auf Wiedersehen“ und war verschwunden.
Lange machte sich Thomas Vorwürfe, daß er sich so täppisch und unbeholfen benommen hatte. Was mußte Gisela Machenberg — denn sie war es gewesen — nun von ihm denken? Sie kannten sich freilich schon seit ihrer Kindheit, aber seit Jahren war Thomas nicht mehr mit Gisela zusammengekommen.
In den letzten drei Jahren hatte Thomas Gisela nur flüchtig gesehen, wenn sie in den Ferien nach Hause kam, denn sie war bei ihrem Onkel gewesen, einem Bruder Pastor Machenbergs, der Direktor eines berühmten Lyzeums war, durch das auch Gisela gehen sollte. Schließlich hatte es die Krankheit der Mutter nötig gemacht, daß sie zurückkam, damit sie die Mutter pflegen und ihr einen Teil des Haushalts abnehmen konnte.
Nachdem Thomas sie nun wiedergesehen hatte, bat er Karl, die Schwester zu grüßen, aber von der Begegnung an der Orgel mochte er nicht sprechen. Bald besuchte er dann wieder einmal wie gewöhnlich den Freund in der Pfarre, und dabei traf er auch Gisela. Er konnte sie aber nicht allein sprechen. Sie war freundlich wie immer, aber er fühlte sich ihr gegenüber befangen, und es schien ihm, als habe auch sie etwas gegen ihn. Es wollte ihm nun nicht mehr gelingen, so wie früher, im Innersten bewegt, auf seiner Orgel zu spielen. Das kam dem Tagebuch zugute. Die ersten Verse entstanden, aber er war kritisch genug, sie selbst schlecht zu finden. Allmählich wurde ihm klar, daß es Gisela war, die ihm seine Ruhe raubte. Aber hatte er denn ein Recht oder auch nur eine Möglichkeit, sich ihr zu nähern, nachdem er so unhöflich und unbeholfen gewesen war? Außerdem traf er sie ja nie allein. Auf dem Bummel nicht, in der Buchhandlung nicht, bei Machenbergs selbst auch nicht, denn da besuchte er ja Karl, und Gisela war meistens bei der Mutter oder mußte sich um den Haushalt kümmern.
Heimlich wuchs seine Neigung, was ihn ihr gegenüber immer verlegener machte. Von beglückenden Phantasiebildern stürzte er in tiefe Schwermut; manchmal erfüllte ihn überschäumende Lebenslust, oft aber mußte er alle Kräfte aufbieten, um nur die einfachsten Tagespflichten zu erfüllen. Am liebsten stürmte er hinaus in die Natur — auch an trüben Tagen —, um in ihrer erhabenen Ruhe sich wiederzufinden. Bald vernachlässigte er die Orgel, bald zwang er sich zu vielstündigen Uebungen. Manchmal glaubte er, Wärme und Verheißung in Giselas Blicken zu erkennen, manchmal schien es ihm, als sehe sie ihm mit verwunderter Gleichgültigkeit nach. Wenn er die Mutter oder andere das Pastorentöchterlein loben hörte, war er stolz auf sie, um gleich darauf um so trauriger zu werden, weil er einsah, daß alle Beziehungen zwischen ihr und ihm ja nur in seiner erhitzten Phantasie bestanden. Ob sie ihn überhaupt leiden mochte? Sie war freundlich zu ihm wie zu jedermann, aber er bemerkte, daß sie mit anderen freier umging. Fast mied sie ihn ein wenig.
Christa hatte lange durchschaut, wie es um ihren Bruder und ihre Freundin stand und beschloß, ein wenig Vorsehung zu spielen. Als Gisela Geburtstag hatte, nahm Christa sie beiseite und flüsterte ihr zu, Thomas wollte ihr gern eine Freude machen, und sie möge doch am Abend zu der gleichen Stunde wie damals, als sie ihn belauscht habe, in der Kirche sein. Alles andere werde sie hören. Zu Thomas aber sagte sie, Gisela habe gefragt, ob er ihr nicht zum Geburtstag einen Gefallen tun wolle. Sie wünsche sich, daß er ihr gegen Abend in der Kirche etwas vorspiele. Er solle nur gar nicht auf sie achten und einfach so spielen wie damals. Von dieser Begegnung der beiden wußte Christa durch Gisela, die in einer vertrauten Stunde einmal darüber gesprochen hatte.
Thomas wurde erst blaß und dann rot; schließlich versprach er alles und wollte sich gleich ans Ueben begeben. Christa hielt ihn indessen zurück; Gisela habe besonders gebeten, er solle ganz so spielen wie damals, keine Glanzstücke, sondern wie es ihm einfalle, aus sich heraus.
Mit banger Erwartung ging er abends in die Kirche, begann erst ein wenig unsicher über ein Bachsches Thema zu improvisieren, dann aber entzückte ihn die Gewalt dieser Klänge, und allmählich vergessend, weshalb er spielte, verlor er sich ganz in den Zauber dieser Musik.
Und wieder war es wie damals. Er lauschte dem letzten Akkord und wendete sich, durch ein kleines Geräusch aufgeweckt, um. Da reichte ihm Gisela die Hand, ohne etwas zu sagen.
Christas List hatte die Spannung zwischen ihnen aufgehoben; sie begegneten sich nun unbefangener. Aber wenn sie jetzt wußten — jeder von sich selbst gewiß,