Eine Jugend war das Opfer. Thilo Koch
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„Und zu einer Bösartigkeit, mit der er jedes andere Wesen in der Natur bei weitem übertrifft.“
„Nicht nur übertrifft; allein der Mensch kann überhaupt bösartig sein, weil allein er Gut und Böse unterscheidet. Darum ist er ohne eine bindende Ethik das unglücklichste aller Geschöpfe, mit ihr aber — sie äußere sich als Religion oder Phisolophie — das reichste, reicher als die Natur, um alles das nämlich reicher, was wir Kultur nennen.“
„Ein Reichtum, der mir immer fragwürdig erschien.“
„Er ist es heute mehr denn je durch das Fehlen einer Ethik, denn man sollte sich hüten, die Züchtung eines geblähten Patriotismus für ethisch zu halten. In Wahrheit erweitert man damit nur den individuellen Egoismus zu einem kollektiven: Der Mensch wird zum Herdentier. Die Vermassung aber nimmt dem einzelnen die Verantwortung als sittliche Persönlichkeit, also sein Gewissen, und seine restlichen Anwandlungen von Humanität schaltet man aus, indem man an seinen Idealismus für höhere, das heißt machtpolitische, patriotische Zwecke appelliert. Als Menschenmaterial wird er in der großen Maschinerie des Staates verbraucht.“
„Ein düsteres Bild! So ganz unrecht haben Sie leider nicht; aber so sehr ich im grundsätzlichen, wo Sie Idealist sind, skeptisch urteile, sowenig zweifle ich doch im einzelnen daran, daß alles irgendwie richtig, weil notwendig, geschieht. Deshalb bleibe ich auch lieber bei Realitäten und philosophiere nicht gern. Man wird nur mißmutig davon.“
Sie waren bei dem kleinen Springbrunnen angekommen. Melk, die Hände auf dem Rücken, blickte nachdenklich auf das silbern zerrieselnde Tropfenspiel. Sternhaus sah ihn von der Seite an und brach das kurze Schweigen:
„Es tut mir aufrichtig leid, daß gerade Sie es sind, Herr Kollege, den man zu diesem blödsinnigen Schulungskurs befiehlt. Aber ich sagte Ihnen ja, ich . . .“
„Sie brauchen nichts zu befürchten“, winkte Melk ab. „Ich gehe hin und lasse mir zeigen, wie man die neue Jugend erziehen muß, und schweige, wo es angebracht ist.
Man sollte auswandern oder sich wenigstens zur Ruhe setzen. Aber dafür hänge ich zu sehr an den Jungen, an unserem Beruf — geradezu närrisch hänge ich daran. Und manches Gute kann man vielleicht doch noch stiften. Gerade jetzt. Den einen oder anderen bringt man doch zum Nachdenken, und damit ist schon viel erreicht. Das Nachdenken muß sich ganz von selbst gegen dieses Regime wenden. Man braucht fast gar nicht mehr zu tun, als dazu anzuregen. Sehen Sie doch die Grundsätze, nach denen wir die Jugend erziehen sollen. Nicht zuletzt zielt alles darauf ab, den Jungen und Mädchen keine Zeit zu lassen, sich Gedanken zu machen, ob denn auch alles, was man ihnen empfiehlt — und das heißt ja heute stets so viel wie befiehlt —, ob alles das auch recht und gut ist. Probleme gibt es für diese Jugend nicht mehr. Nur Lösungen, die in ehernen Lettern in den Schulungsheften zu lesen sind und geglaubt werden müssen, Parolen, Führerworte. Schon der Zehnjährige wird in eine Uniform gesteckt. Man mag beim Wandervogel und bei den Pfadfindern noch so viel an Fahrtengeist und freier Wanderlust entlehnen wollen — das Grundelement der HJ ist die vormilitärische Ausbildung. Drill und Dressur sollen im Kinde schon den Soldaten wecken. Daß die Seele dabei verlorengeht, der Geist unausgebildet bleibt — wer fragt danach? Das Ziel ist eindeutig: Sparta und nicht Athen. Oder wenn wir in Deutschland bleiben wollen: Potsdam und nicht Weimar.“
„Aber offenbar ist es im Sinne der heranwachsenden Generation. Die Jungen und Mädchen sind begeistert bei der Sache.“
„Die Mehrzahl gewiß. Jugend ist immer leicht zu begeistern, ist leicht entflammt für Dinge, die nach Abenteuer und Ferne schmecken, also für Krieg und Kriegesruhm. Jugend will im Dienst einer großen Idee stehen. Es ist die Schuld unserer Generation, Herr Direktor, daß wir ihr keine wahrhaft große, humane Idee aufrichteten. Nun läuft sie in blindem Eifer der erstbesten Fahne nach, deren Träger so klug waren, die Jugend aufzurufen.“
„Ja, ja. Außerdem steht der junge Mensch immer in einer ganz natürlichen Opposition zu Schule und Elternhaus, und gerade die vitaleren Typen sehen in der HJ eine vortreffliche Basis, dieser Opposition den Anschein nationalpolitischer Wichtigkeit zu geben.“
„Und sie haben in ihrer HJ ja auch eine reale Macht. Eltern und Arbeitgeber, ebenso wie die Lehrerschaft, verlieren immer das Rennen, wenn sie sich mit der HJ einlassen.“
Sternhaus sah sich wieder ängstlich um und zog etwas hastig die Uhr: „Wir haben uns ganz schön verplauderte. Meine Frau wird schon mit dem Essen warten.“
„Ja, es wird Zeit, daß wir einander frohe Ferien wünschen“, sagte Melk. „Doch ich hätte es beinahe vergessen — da ist noch eine halb dienstliche Sache. Was machen wir mit Frey? Er will auf eigene Faust nach England fahren, nachdem ihn die HJ nicht zum Schüleraustausch zugelassen hat. Man sollte ihm wohl abraten; es gibt bestimmt Aerger.“
„Ich weiß davon“, bestätigte Sternhaus, „und habe ihn natürlich darauf aufmerksam gemacht, daß er sich dadurch den Zorn seines HJ-Gebietsführers Landhoff zuziehe, von dem das Verbot ausgeht. Andererseits ist es natürlich gut für ihn, wenn er die Reise macht — rein bildungsmäßig. Er will ja zu diesem englischen Musikprofessor — wie hieß er doch gleich?“
„Professor Johnson meinen Sie, einer der bedeutendsten Musikpädagogen Großbritanniens, der mit unserem Orgelprofessor Gehrmann in Hellwedel befreundet ist. Gehrmann hat Frey als begabten Schüler empfohlen, und Johnson hat ihn darauf für die Ferien eingeladen. Damit es unkostenmäßig ermöglicht werden kann, nimmt Gehrmann dann seinerseits einen jungen Engländer auf. Also ein Schüleraustausch privat.“
„Ja, so schilderte es Frey mir auch. Ich bin überzeugt, daß er sich nicht abhalten läßt zu fahren. Nun, als Studienreise ist ja eigentlich nichts dagegen einzuwenden.“
„Wir wollen das beste hoffen, aber wenn ich an das treffliche Duo Landhoff-Nietmann denke, bin ich bedenklich. — Nun aber möchte ich mich verabschieden, Herr Direktor, um mich langsam ‚geistig und moralisch‘, wie es jetzt immer so schön heißt, auf meinen Lehrgang vorzubereiten. Ich will doch nun endlich lernen, wie man Jugend anfaßt.“
6.
Indessen war Thomas in rechter Ferienvorfreude nach Hause gegangen, war die Treppe zu seinem Stübchen hinaufgesprungen, hatte vergnügt pfeifend seine Mappe auf ihren Platz geworfen und mit den Reisevorbereitungen begonnen. Je eher er weg war, desto besser. Dann konnte wenigstens nichts mehr dazwischen kommen. Wenn er nur erst im Zuge säße! Und den Abschied hinter sich hätte . . . Gerade jetzt, nach dem unvergeßlichen Sonntagnachmittag, sollte er sich für fünf Wochen von Gisela trennen. Er trat an das offene Fenster, an welches greifbar nahe die großen Blätter der Linden des Kirchgartens heranreichten. Würde es nicht schöner sein, diese fünf Wochen in Giselas Nähe zuzubringen? Hier zu sitzen und an sie zu denken, den Abend erhoffend, der vielleicht ein Stelldichein brachte? Fast hätte er nun den Reiseplan verwünschen mögen; aber es war nicht mehr zu ändern. Gestern abend hatte er ihr erklärt, warum er trotz aller Schwierigkeiten die Englandreise machen wolle. Sie war sehr traurig gewesen, hatte aber eingesehen, daß es gut für ihn sei zu fahren. Durch die Leiden ihrer Mutter und die vielen Pflichten, die sie so jung übernehmen mußte, war sie es gewöhnt, eigene Wünsche zurückzustellen. Sie hatte an eine Wanderung zu viert gedacht,