Tod dem Management. Siegfried Kaltenecker
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Nemecek musste zugeben, dass das alles ziemlich interessant klang – und ihn einmal mehr in die Zeit zurück katapultierte, als sie in der SafeIT im Mordfall Paul Steiner ermittelt hatten. Damals hatte er sich ja auch schon mit den Phänomenen Agilität, Selbstorganisation und Führung beschäftigt. Er erinnerte sich noch gut, dass er dazu einiges gelesen und sich viele Notizen gemacht hatte. Er hatte allerdings keine Ahnung, wo seine Notizbücher von damals abgeblieben waren. Wäre sicherlich interessant, noch einmal nachzulesen, was er sich damals dazu aufgeschrieben hatte. Schließlich hatte ihm sein früherer Chef und Mentor Josef Kallinger jahrelang eingeschärft, dass man den Kontext klären musste, wenn man die Textur eines Verbrechens erkennen wollte. Bislang hatte sich dieses Credo noch in jedem Fall bewahrheitet. Ohne die genauen Umstände erhellt zu haben, waren weder das Motiv noch die Mittel eines Mordes zu entschlüsseln. Geschweige denn die Gelegenheit, die der Täter für seinen tödlichen Anschlag genutzt hatte. Was ihn einmal mehr auf die alles entscheidende Frage zurückwarf, ob sie es in der aktuellen Situation überhaupt mit einem Mordfall zu tun hatten. Und, falls ja, welche Rolle dabei die Themen spielten, über die Pflückinger sprach. Hatte Joschaks Tod überhaupt etwas mit seiner beruflichen Tätigkeit zu tun? Spielte es eine Rolle, dass er als Manager tätig war? Und wenn ja, lag das Motiv möglicherweise in den Veränderungsprozessen begründet, die die Acros gerade durchlief?
Ohne es zu wollen, zuckte Nemecek mit den Schultern. Zweifellos war es noch zu früh, um darauf schlüssige Antworten liefern zu können. Bis es so weit war, konnte er immerhin sein Verständnis über die neue Arbeitswelt vertiefen. Dementsprechend entschlossen klickte er auf einen weiteren Link auf seinem Tablet.
»Wir sollten uns allmählich eingestehen, dass wir diese neue Welt niemals mit unseren alten Landkarten bewältigen können.« (Meg Wheatley)
Nemecek setzte den Stift ab. Diese Verbindung von Welt und Landkarte gefiel ihm – nicht zuletzt, weil sie auch einiges mit seiner eigenen Familiengeschichte zu tun hatte. Sie weckte Erinnerungen an legendäre Diskussionen, die sie in der Familie bei Wanderungen regelmäßig hatten. Einmal war Lea sogar wutentbrannt in den Wald gelaufen, nachdem sie als Navigationsverantwortliche lautstark infrage gestellt wurde. Damals waren sie noch mit echten Wanderkarten unterwegs gewesen, aus Papier und so trickreich gefaltet, dass Nemecek sich regelmäßig verhedderte. Statt einer kompakten Mappe glichen die von ihm zusammengelegten Karten eher einem unförmigen Stapel Papier.
Die Karte in ihrer Hand hinderte Lea damals freilich nicht daran, die gesuchte Abzweigung gleich zweimal zu verpassen. Während die ganze Wandergruppe im Kreis lief, mehrte sich der Unmut der anderen Kinder, die schon länger über Hunger klagten und am liebsten den direkten Weg zur Jausenstation eingeschlagen hätten. Lea schwor natürlich Stein und Bein, dass dies der richtige Weg war. Nemecek stellte fest, dass es auf der Karte genau danach aussah. Umso größer war die Überraschung, als sie später im Biergarten entdeckten, dass es sich gar nicht um eine Karte des Anninger handelte, auf dem sie unterwegs waren, sondern um eine des benachbarten Prielstein!
Die ganze Geschichte war letztlich halb so wild, schließlich war ihnen die Umgebung vertraut. Nachdem sich die Gemüter wieder einigermaßen beruhigt hatten, mussten sie nur einem der ausgetretenen Pfade folgen, um zu dem gesuchten Rastplatz zu kommen. Da war die Welt in globaler Hinsicht schon ein ganz anderes Kaliber. Allein, wenn er Revue passieren ließ, welche tiefgreifenden Veränderungen seit der Geburt seiner beiden Töchter stattgefunden hatten: seien es nun politische Veränderungen, wie die weltweiten Flüchtlingsströme, ökologische, wie sie die von seinen Töchtern leidenschaftlich unterstützte Friday for Future-Bewegung thematisierte, soziale Veränderungen, die nicht zuletzt durch die sozialen Medien forciert wurden, oder eben ökonomische Veränderungen, die Unternehmen vor ungeahnte Herausforderungen stellten. Dafür gab es eben schon lange keine verlässlichen Landkarten mehr, geschweige denn ausgetretene Pfade, denen man einfach folgen konnte. Dazu kam, dass sich mit dem Markt auch die inneren Anforderungen an Organisation und Management gewandelt hatten. Schließlich legten die Kunden mittlerweile auf ganz andere Dinge wert, als dies 20 Jahre zuvor der Fall war. Und dasselbe galt für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der diversen Generationen X, Y und Z, die klammheimlich die Unternehmenskulturen dieser Welt veränderten.
»Wir bewegen uns durch unbekanntes Gelände«, las er weiter, »und dafür brauchen wir neue Formen der Navigation.« Das war zwar reichlich metaphorisch, doch Nemecek liebte seit jeher starke Bilder, die nicht nur trockene Fakten boten, sondern Raum zum Nachdenken öffneten. In diesem Fall wurde die Tür zu einer der Kernfragen der Agilität aufgestoßen: Wozu das Ganze? Wenn der Weg in eine erfolgreiche Zukunft durch unbekanntes Gelände führt, so die Argumentation, brauchen Unternehmen jedenfalls mehr Flexibilität. Und sie brauchen andere Formen der Steuerung, um eine solche Flexibilität zu gewährleisten.
Das leuchtete ihm ein und er vertiefte sich weiter in den Text. Wenn sich die Welt schneller drehte und zugleich immer unberechenbarer wurde, müssen Unternehmen möglichst bewegliche Systeme schaffen. Das konnte jedoch nur gelingen, wenn die Unternehmen agiler wurden, was ja buchstäblich mehr Beweglichkeit und Schnelligkeit versprach. Die gewünschte Agilität hing allerdings davon ab, dass man überhaupt mitbekam, was sich rundherum tat. Dafür benötigte man wiederum eine besondere Form des Radarsystems, das den eigenen Informationsstand beständig aktualisierte. Fragte sich bloß, wie das in der Praxis gelingen konnte.
Nur wenig später stieß er auf eine überzeugende Antwort: Um für ein möglichst breites Sensorium zu sorgen, hieß es da, müssen nicht nur einzelne Spezialisten, sondern alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Fühler ausstrecken. Sie würden, argumentierte die Autorin weiter, gleichsam zu Spionen, die das Geschehen auskundschaften, indem sie mit Kunden reden, deren Wünsche erkunden, neue Möglichkeiten ausloten und ihre fachkundigen Schlüsse zogen. Um die wahrgenommenen Chancen und Risiken möglichst effizient verarbeiten zu können, brauchte es wiederum geeignete Kommunikationsformate und Arbeitsprozesse. Denn die beste Information nützte wenig, wenn man organisationsintern nicht imstande war, die neuen Anforderungen rasch zu teilen und entsprechend umzusetzen, um dem Kunden bessere Produkte und Dienstleistungen zu liefern.
»Hallooo? Wo bist du denn schon wieder mit deinen Gedanken?«
Nemecek hob den Kopf. Anscheinend war er so vertieft gewesen, dass er seine Frau nicht mehr wahrgenommen hatte. Bettina musterte ihn skeptisch. »Du kannst wohl niemals abschalten, oder? Und wenigstens für ein paar Stunden ganz bei uns sein?«
Mehr als ein hilfloses Schulterzucken hatte Nemecek nicht zu bieten. Er merkte, dass ihn die kritischen Worte seiner Frau störten. Aber noch mehr störte ihn die Ahnung, dass sie recht hatte.
»Also noch einmal«, sagte Bettina eindringlich. »Was wollen wir denn heute Abend essen? Die Kinder haben Hunger. Und wie du weißt, duldet das keinen Aufschub. Du kennst sie ja!«
Erst jetzt fiel Nemecek auf, dass die vier Mädchen bereits ihre Badesachen in den Händen hielten. Er hatte weder bemerkt, wie ihre große Seeschlacht weiterverlaufen, noch wann sie zu Ende gegangen war. Aber nun war offenkundig Aufbruch angesagt. Nemecek stand von seiner Liege auf und ging auf die jungen Damen zu.
»Hallo