Einführung in die Systemtheorie. Niklas Luhmann
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Hinzu kommt, dass der Beobachter nicht nur eine soziologisch vielleicht noch am ehesten eingängige Figur ist, sondern von Heinz von Foerster, Humberto Maturana, Francisco Varela und anderen auf der Ebene der allgemeinen Systemtheorie eingeführt wurde, also auch auf den Phänomenebenen des Organismus, der neuronalen Systeme, des Bewusstseins, künstlicher Systeme und vielleicht auch physikalischer Systeme erprobt werden muss – ohne dass man wüsste, ob die Unterscheidung dieser Phänomenebenen diese Erprobung überlebt. Man kann sich also vorstellen, was die interdisziplinäre Diskussion um die Konzepte der Kybernetik zweiter Ordnung, der Selbstorganisation, der Autopoiesis und der Form der Unterscheidung seit den 1960er-Jahren sowohl faszinierte als auch erschwerte und in vielen Fällen unmöglich machte.
Ich bin ziemlich sicher, dass Luhmann nie auf die Idee gekommen wäre, die Transkription einer seiner Vorlesungen zu veröffentlichen. Zu unfertig und zu unsicher wären ihm viele Darstellungen gewesen. Ich vermute jedoch, dass er sich nicht dagegen gewehrt hätte, diese Transkription als Arbeitsbuch und Materialiensammlung herauszugeben. Der Herausgeber übernimmt eine andere Art von Verantwortung für ein Buch als sein Autor. Luhmann zeichnet auch für dieses Buch als Autor verantwortlich. Immerhin hat er die hier transkribierte Vorlesung tatsächlich gehalten. Der Herausgeber hat jedoch zu verantworten, dass dies ein Buch ist, das Luhmann selbst nicht publiziert hätte. Er übernimmt die Verantwortung, indem er darauf hinweist, dass dieses Buch in Ergänzung und zur Begleitung der Tonbandkassetten der Vorlesung wie kein anderes geeignet ist, in die lebendige Arbeit an der Theorie einzuführen und dem Eindruck der dogmatischen Geschlossenheit der Theorie entgegenzutreten. Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass ein Leser, der es an bestimmten Stellen genauer wissen will, andere Publikationen von Niklas Luhmann zur Hand nimmt, insbesondere natürlich das Buch Soziale Systeme.
Meine Arbeit an dem Text beschränkt sich darauf, ihn einem im Schriftlichen üblichen Textduktus anzupassen. Man wird mithilfe des Textes, wenn man möchte, die auf den Tonbandkassetten dokumentierte Vorlesung mitlesen können, jedoch bemerken, dass ich Wörter umgestellt und manche im Mündlichen üblichen Füllwörter wie »natürlich«, »wirklich«, »eigentlich«, »überhaupt« oder »vor allen Dingen« ausgelassen habe. Alle Fußnoten stammen von mir, aber auch hier habe ich mich in der Regel darauf beschränkt, die bibliografischen Referenzen für von Luhmann gegebene Verweise zu ergänzen. Der Sachindex beschränkt sich auf Haupteinträge, sodass er gleichsam wie ein ergänzendes Inhaltsverzeichnis zu benutzen ist.
Großer Dank gebührt dem Audiovisuellen Zentrum der Universität Bielefeld, das die Tonbandaufnahme der Vorlesung sichergestellt hat, und Christel Rech-Simon, die die Vorlesung in eine erste Textfassung transkribiert hat.
Der Band ist der Erinnerung an die präzise Konzentration, die persönliche Bescheidenheit und die ruhige Heiterkeit gewidmet, mit denen Niklas Luhmann es verstand, seine Vorlesungen zu halten.
Dirk Baecker, im Juli 2002
I.Soziologie und Systemtheorie
Erste Vorlesung
Meine Damen und Herren, die Vorlesung Einführung in die Systemtheorie, mit der ich heute beginne, wird an einer soziologischen Fakultät gehalten und ist in erster Linie an ein soziologisches Publikum adressiert. Die Frage, die wir gleich anfangs ins Auge fassen müssen, ist jedoch, ob es so etwas wie Systemtheorie auf dem aktuellen Stand der Forschung in der Soziologie heute überhaupt gibt. Die Soziologie steckt in einer tiefen Theoriekrise, das kann man, glaube ich, ohne viele Vorbehalte sagen. Wenn man Veranstaltungen über Theoriefragen in der Soziologie besucht oder entsprechende Literatur liest, findet man dominierend einen Rückgriff auf Klassiker, also Diskussionen über Max Weber, Karl Marx, Georg Simmel oder Émile Durkheim. Die heutigen Soziologen sind durchaus nicht unkritisch gegenüber ihren klassischen Grundlagen, aber es herrscht doch die Vorstellung vor, dass die Konturen des Faches durch diesen klassischen Anfang bestimmt sind. Es gibt einige middle-range-Theorien, die darüber hinausreichen und die aus der empirischen Forschung entstanden sind, aber es gibt eigentlich keine theoretische Beschreibung der Probleme, vor denen sich die moderne Gesellschaft heute findet. Das gilt zum Beispiel für Ökologiefragen. Das gilt für Probleme mit den Einzelmenschen, den Individuen. Das gilt für den ganzen Bereich zunehmender Therapiebedürftigkeit und vieles andere mehr.
Die eigentlich faszinierenden intellektuellen Entwicklungen finden heute außerhalb des Faches der Soziologie statt. Das ist jedenfalls der Eindruck, von dem ich ausgehe. Ich möchte daher zunächst einmal in einem kurzen ersten Teil versuchen zu zeigen, wie man in der Soziologie bisher mit systemtheoretischen Orientierungen gearbeitet hat und wie, in welchen Formen man dabei auf Grenzen, auf Sackgassen, auf prinzipielle Theoriekritik gestoßen ist und dann nicht weitergemacht hat.
Darauf wird ein relativ umfangreicher Teil folgen, in dem ich versuchen will, interdisziplinäre oder transdisziplinäre Theorieanstrengungen durchzusehen, um herauszubekommen und vorzuführen, was daran möglicherweise für die Soziologie interessant ist. In den abschließenden Überlegungen werde ich versuchen, aus diesen Theorieüberlegungen – das können mathematische, psychologische, biologische, epistemologische, kybernetische und so weiter Quellen sein – für die Ausgangspunkte soziologischer Theoriebildung Schlüsse zu ziehen.
Die Vorlesung wird in relativ abstrakten Theoriekonzepten enden, die im soziologischen Alltagsbetrieb erst noch auf ein forschungsfähiges Format zugeschnitten werden müssen. Das betrifft Begriffe wie Zeit, Sinn, Handlung, System, doppelte Kontingenz, Struktur und so weiter.
1. Funktionalismus der Systemerhaltung
Ich beginne mit dem Versuch zu skizzieren, was sich in den 40er- und 50er-Jahren in der Soziologie, und zwar vornehmlich, ja fast ausschließlich in den Vereinigten Staaten, als soziologische Systemtheorie herausgebildet hat. Dabei sind es im Wesentlichen zwei Bereiche, auf die man achten muss. Der erste Bereich läuft unter dem Titel Strukturfunktionalismus oder Bestandsfunktionalismus, und der zweite Bereich ist eine Eigenleistung von Talcott Parsons. In beiden Hinsichten ist es gegen Ende der 60er-Jahre zu einer erheblichen ideologischen Kritik des systemtheoretischen Ansatzes gekommen. Schon diese Kritik war eher ideologisch als substanziell theoretisch fundiert, aber sie hat ausgereicht, um die weiteren Arbeiten an einer soziologischen Systemtheorie mehr oder weniger auszuschalten.
Wenn man heute in die Vereinigten Staaten kommt und mit Soziologen diskutiert und sich zu einem systemtheoretischen Ansatz bekennt, hört man oft erstaunte Kommentare, so als ob man mindestens 20 Jahre hinter der Entwicklung des Faches zurück sei, während von mir aus gesehen gerade umgekehrt Soziologen, die die Systemtheorie für eine erledigte Sache halten, ihrerseits nicht wahrnehmen, was sich im interdisziplinären Feld inzwischen entwickelt hat.
Natürlich spielen dabei Disziplinbarrieren eine Rolle, aber sie müssen nicht unbedingt unüberwindlich sein. Kein Zweifel zunächst einmal, dass von heute aus gesehen die Ansätze, die in den 40er- und 50er-Jahren entwickelt worden sind, erhebliche Schwächen aufweisen. Ich will ganz kurz skizzieren, was man damals unter »Bestandsorientierung«, »Bestandsfunktionalismus« oder auch »Strukturfunktionalismus« verstanden hat.
Ausgangspunkt waren ethnologische, sozialanthropologische