Einführung in die Systemtheorie. Niklas Luhmann
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Diese Vollständigkeitsgarantie scheint für Parsons in gewisser Weise den Universalitätsanspruch seiner Theorie zu dokumentieren. Wenn alles berücksichtigt worden ist, was für das Zustandekommen von Handlung nötig ist, dann ist eben damit Vollständigkeit und eben damit Universalität der Theorie garantiert. Dann muss alles und kann alles, was über Handlung zu sagen ist, in diese Theorie eingebaut werden. Darin liegt dann in der Tat die Mentalität von Parsons: zu sehen, wie er Anregungen, die er von außen bekommt, in seinem Schema der vier Boxen, der vier Kästchen, unterbringen kann, wie er sie entweder auf die eine oder die andere Funktion verteilen kann.
Wenn wir diese Eigentümlichkeit beachten, können wir sehen, dass Parsons einer der großen Theoriearchitekten ist, der ein eigentümliches Konstruktionsmuster ausprobiert und dann sichtbar machen kann, was man mit diesem Theoriemuster erreicht, wie das Design einer bestimmten Theorie sich auswirkt und wie es mit anderen Theoriemustern, etwa mit einer dialektischen Theorie, kontrastiert. Insofern verdankt man Parsons die Sichtbarkeit einer bestimmten Theoriearchitektur. Und Sichtbarkeit heißt natürlich immer auch, dass man die Möglichkeit erkennt, sie zu kritisieren und zu beurteilen, wie weit man damit kommt und was man damit nicht leisten kann. Es geht, könnte man auch sagen, um einen logischen Raum von Möglichkeiten. Und die Frage ist dann, was uns garantiert, dass alle diese Möglichkeiten auch tatsächlich benutzt werden, dass alle diese Plätze, die das Schema bereitstellt, auch in der Realität besetzt sind. Diese Frage wird noch dringlicher, wenn man sieht, wie das Schema detailliert wird und wie aus vier Boxen sechzehn Boxen und so weiter werden, je nachdem, wie man das System unterteilt. Für Parsons stellt sich diese Frage aber nicht, weil er davon ausgeht, dass immer dann, wenn Handlung zustande kommt, alle diese Boxen besetzt sein müssen. Das eben ist analytischer Realismus, das heißt Realismus in dem Sinne, dass die Theorie zeigt, dass Handlung anders nicht möglich ist.
Zweite Vorlesung
Wie geht nun Parsons weiter vor? Was fängt er mit diesen Vorgaben an? Zunächst einmal bietet das Schema die Möglichkeit der Schwerpunktsetzung. Das hatte ich schon angedeutet. Wenn eine Handlung oder ein Handlungskomplex sich auf eine dieser Funktionen konzentriert, spricht Parsons von »functional primacy«, vom Primat einer Funktion. Dann bildet sich ein entsprechendes System aus, beziehungsweise differenziert sich ein entsprechendes System um eine einzelne Funktion. Im Fall der Konzentration etwa auf die Funktion »adaptation« im Bereich der sozialen Realisierung von Handlung bildet sich ein System für Wirtschaft.
Wie aber kann ein solches System »System« sein? Wie kann in einem solchen abgesonderten Komplex »Handlung« zustande kommen? Nach Parsons ist dies nur so möglich, dass wiederum auch in dem für »adaptation« reservierten Bereich alle vier Funktionen erfüllt sein müssen. Auch wirtschaftliches Handeln muss eigene adaptive Funktionen erfüllen, es muss ein eigenes goal attainment erreichen, also zum Beispiel befriedigenden wirtschaftlichen Ertrag, es muss integriert sein, und es muss die patterns, die eigenen Strukturen, im Zustand von Latenz erhalten, also durchtradierbare Strukturmuster schaffen können. Innerhalb des einzelnen ausdifferenzierten, funktionsspezialisierten Systems kommen alle anderen Funktionen noch einmal vor.
Das führt zu dem Gesamttheorem, dass das System in sich selbst wiederholt werden kann: dass aus jeder Box wiederum vier Unterboxen entstehen können: dass aus jedem Teilsystem wiederum vier und immer nur vier Teilsysteme entstehen können. Die Frage, wie weit das getrieben werden kann, ob auch ein Sechzehntelsystem wiederum in vier Boxen zerlegt werden kann, ist eine praktische Frage an die erreichbare Komplexität des Systems, an die erreichbare Komplexität der Handlungswirklichkeit. Lohnt es sich? Kommt es dazu? Ist genügend Material vorhanden, damit solche Untersysteme in immer größerer Verfeinerung gebildet werden können? Darüber braucht man kein endgültiges Urteil zu fällen, das lässt die Theorie gewissermaßen offen und überlässt es der sozialen Realität, das heißt, man muss nachsehen, ob sich und in welchen Gesellschaften sich ein Spezialsystem für Wirtschaft oder für Politik bildet oder nicht.
Man sieht hier, dass die Theorie eine erhebliche geschichtliche, evolutionäre Offenheit hat. Sie kann verschiedene Geschichtszustände unter dem Gesichtspunkt beschreiben, ob für spezifische Funktionen bestimmte Sondersysteme ausdifferenziert sind, ob es also Geldwirtschaft oder territorialstaatliche Politik gibt oder nicht; und entsprechend, wie weit in der Wirtschaft die dafür geeigneten Subsysteme ausdifferenziert sind. Von der Theorie her hat man zunächst einmal den Eindruck, dass dies eine schreckliche Komplexität wird: 4 mal 4 mal 4 ad libitum ohne von der Theorie vorgeschriebene Entwicklungsgrenzen. Aber in der Sache selbst kann Parsons immer antworten, dass wir nachsehen müssen, ob solche Chancen genutzt werden oder nicht. Die wirkliche Limitierung liegt darin, dass es immer nur vier Funktionen sein können, dass also alle Evolution auf dem vorgegebenen Gleis einer ganz bestimmten Differenzierung laufen muss, darin jedoch auch Disbalancierungen aufweisen kann, zum Beispiel die Wirtschaft stark ausdifferenzieren und die Integration vernachlässigen kann. Das wäre das Durkheimproblem der Solidarität in einer Gesellschaft mit hoher Arbeitsteilung. Aber solche Disbalancierungen, wiederum eine Hoffnung Durkheims, sind vorübergehend und erfordern irgendwann einmal korrektive Nachentwicklungen in den anderen Funktionssystemen. Diese auf den ersten Blick irritierende, auch störende Multiplikationsvorschrift des Systems in sich selber hat also durchaus auch historische, aktuelle, realistische Interpretationsmöglichkeiten. Parsons versucht auch, in seinen eher historischen oder entwicklungstheoretischen Überlegungen diese Möglichkeiten auszunutzen. Das kann nur in dem Maße gelingen, als es gelingt, die Boxen mit Namen oder mit Plausibilitäten zu versorgen, also jeweils immer angeben zu können, welche Realität hinter einer kombinatorischen Möglichkeit steckt. Dies scheint mir die wirkliche Schwierigkeit des Systems zu sein, da, wie bereits gesagt, dieses Problem nicht deduktiv gelöst werden kann, sondern durch inventorische, inventarisierende Fantasie gelöst werden muss, auch ein gutes Stück theoretischer Kreativität erfordert. Es lohnt, sich nachzusehen und im Einzelnen zu kontrollieren, wie Parsons vorgegangen ist, welche Namen welche Boxen erhalten und welcher Einsichtsgewinn und wie viel Realismus hinter dieser Verfahrensweise steckt. Das kann im Rahmen dieser kurzen Vorstellung der Theorie nicht geschehen. Ich muss mich damit begnügen, zwei Fälle durchzudeklinieren.
Der erste Fall ist die allgemeinste Version der Systemtheorie, das heißt das Handlungssystem schlechthin. Der zweite Fall, ich hatte Beispiele daraus schon benutzt, ist der Fall des sozialen Systems. Parsons spricht im Übrigen von solchen Ebenen der Detaillierung oder von solchen Detaillierungsgraden der Theorie als »system references«. Eine seiner bemerkenswerten Einsichten ist, dass man immer Systemreferenzen unterscheiden muss, dass man also wissen muss, auf welcher Systemebene der Detaillierung des Gesamtkomplexes man argumentiert und bestimmte Mechanismen, bestimmte interchange-Möglichkeiten und so weiter ansetzen will.
Wir befinden uns also jetzt zunächst einmal auf der Ebene des allgemeinen Handlungssystems, der allgemeinsten Ebene, die in dieser Theorie vorgesehen ist, wenn man einmal die Spätentwicklung einer generellen Theorie der »human condition« außer Acht lässt. Also, Handlung als solche: Was garantiert die Möglichkeit von Handlung als solcher (Abb. 2)?
Abbildung 2: Das Handlungssystem. A = Adaptation, G = Goal Attainment, I = Integration, L = Latent Pattern Maintenance
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