Letzte Umarmung - Roland Benito-Krimi 3. Inger Gammelgaard Madsen

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Letzte Umarmung - Roland Benito-Krimi 3 - Inger Gammelgaard Madsen Roland Benito

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sie momentan noch bezweifelte, würde sie die Möglichkeit in Erwägung ziehen, Fortbildungskurse zu besuchen und sich weiterzubilden. Zu was, wusste sie noch nicht, aber es würde bestimmt etwas mit Kommunikation zu tun haben, obwohl angekündigt wurde, dass die kommenden Jahre noch härtere – fast brutale – Medienjahre werden würden und dass die Medienbranche in vier Jahren nur noch halb so groß sein würde. Viele gefeuerte Journalisten waren in ganz andere Branchen gewechselt, um die Unsicherheit zu umgehen. Einige waren Taxifahrer geworden, andere Unternehmensberater oder etwas ganz anderes – aber wo konnte man sich sicher fühlen?

      Sie war am Kiosk an der Ecke gewesen, um ein paar Zeitungen zu kaufen. Trotz allem gab es noch einige. Die Zeitungskonzerne hatten sich gegenseitig aufgekauft. Leider hatte niemand das Tageblatt im Visier gehabt. Ein kleines Käseblatt voller Werbung. Soviel sie wusste, war Thygesen bei ein paar Besprechungen gewesen, aber das hatte nie zu einem Verkauf geführt, der sie vielleicht hätte retten können. Bald gab es wohl nur noch eine einzige Zeitung, die das ganze Land abdeckte – bis auch die der digitalen Welt unterlag.

      Langsam blätterte sie in der Zeitung, während sie den Blick über die Spalten gleiten ließ. Taufen, Hochzeiten, Jubiläen und Todesanzeigen auf der gleichen Seite. Ein Überblick über die Lebensphasen. Sie warf einen schnellen Blick auf den Stapel alter Tageblätter auf dem Fußboden. Plötzlich fand sie das Design zutiefst altmodisch im Vergleich zu den anderen Zeitungen auf dem Tisch. Andere Redaktionen hatten ihr Layout in der Krise im Kampf um die Leser erneuert. War es nur das, was sie verkehrt gemacht hatten? Dass sie sich nicht erneuert hatten? Hätte sie Thygesen vorschlagen sollen, Danny Cramers Werbeagentur zu kontaktieren und ihn um Hilfe für ein neues, junges Design und modernere Farben zu bitten? Hätte das geholfen? Sicher nicht, und was hätte es bei Kamilla ausgelöst, wenn Danny miteinbezogen worden wäre? Dann hätte sie ganz sicher damals schon gekündigt. Aber das Tageblatt war veraltet. Zeitungen würden auch mit der Zeit nur noch eine nostalgische Erinnerung für sie sein. Sie hatte die Ausgaben aufbewahrt, in denen sie die größten Triumphe gefeiert hatte. Unter anderem den Gitte-Mord und den Moor-Fall von diesem Herbst. Unheimliche Mordfälle, die sie noch nicht vollständig abgeschüttelt hatte. Aber wie soll ich ohne die Kriminalthemen leben?, fragte sie sich. Sollte sie Privatdetektivin werden? Bei dem Gedanken an die Stellenausschreibungen, die sie auf der Homepage der Polizei von Ostjütland gefunden hatte, als sie dort herumsuchte, lächelte sie. Sie suchten Polizeianwärter mit einem Abschluss in öffentlicher Verwaltung oder in Wirtschaftswissenschaften. Leider hatte sie nur einen Abschluss in Journalismus, sonst hätte sie sich wohl auf die Stelle beworben. Roland Benito würde sicher große Augen machen, wenn sie angestellt werden würde. Sie suchten auch Polizeibeamte, vielleicht wäre das ein besserer Job für sie. Leider würde es zu lange dauern, bis sie fertig wäre und im Präsidium in Aarhus eingesetzt werden könnte. Dann würde Benito sich die Haare raufen. Er musste jetzt erleichtert sein, dass sie sich nicht länger in seine Arbeit einmischen konnte. Sie schluckte schwer, als sie einsah, dass sie ihn tatsächlich vermissen würde. Wie konnte sie ihren Job entbehren?

      Als sie die Stellenanzeigen des Tages sowohl im Netz als auch in den Zeitungen vergebens durchsucht hatte, goss sie eine Kanne Kaffee auf und zündete sich eine Zigarette an. Sie setzte sich aufs Sofa und starrte aus dem Fenster. Der Frost hatte die Scheibe mit hübschen Eisblumen verziert, die in der Sonne zu schmelzen begannen. Sollte sie sich nicht darüber freuen, dass sie nicht eingepackt in einen dicken Mantel, mit Handschuhen, Schal und Mütze nach draußen in die Kälte musste, um zur Arbeit zu kommen? Die Räumfahrzeuge hatten bestimmt den Schnee von der Straße auf die Fahrradwege geworfen, sodass die Autos und Busse vorankommen konnten. Dann hätte sie das Auto nehmen müssen und der alte, gelbe Lada stand im Hof, von Eis und Schnee bedeckt, und würde garantiert nicht anspringen. Was für einen Ärger das gegeben hätte, wenn sie nicht gefeuert worden wäre. Sarkastisch lächelnd schnippte sie die Asche von der Zigarette. Aber es gab wohl genug andere, denen es schlechter ging als ihr. Mads Dam zum Beispiel, ihr ineffizienter Sportjournalistenkollege, der mehr Zeit in der Kneipe als auf dem Fußballplatz verbrachte.

      Würde er im Suff enden? Ihre Kollegin Britt würde mit dem Busen, mit dem sie ausgestattet war, sicherlich Arbeit finden. Sie könnte leicht einen Job in einem Nachtclub oder in einer Bar bekommen. Da könnte sie dann Bierflaschen für Mads Dam öffnen. Anne lächelte wieder bitter. Und Thygesen – was würde aus ihm werden, wenn er sich nicht länger über Kleinigkeiten in der Redaktion aufregen und ihr die Leviten lesen konnte? Würde das dann seine Frau abkriegen, sodass eine Scheidung das nächste Unglück wäre?

      Schöne Schicksale! Sie hatte Lust, Kamilla anzurufen und zu hören, wie es ihr in dem neuen Job erging. Sie hatten sich nicht mehr gesehen, seit sie auf Reisen gegangen war. Es war so viel passiert. Tatsächlich hatten sie seit der Beerdigung ihrer Mutter nicht besonders viel miteinander gesprochen. Es muss hart für sie gewesen sein, obwohl Kamilla sagte, dass sie und ihre Mutter sich nicht besonders nahegestanden hätten. Genau wie sie selbst und ihre Mutter. Vielleicht lebte sie gar nicht mehr. Wer sollte es ihr auch erzählen, falls sie nicht mehr lebte? Ist mir auch egal, dachte sie, drückte den Zigarettenstummel im Aschenbecher aus und trank einen Schluck von dem heißen Kaffee. Sie konnte sich nicht überwinden, Kamilla anzurufen. Das konnte warten, bis sie selbst einen Job gefunden hatte, damit sie etwas Gutes zu berichten hatte und nicht zugeben musste, immer noch arbeitslos zu sein. Sie war in Gedanken weit weg und hörte nur schwach ein leises Klimpern, so als ob irgendwer sich nicht traute, den Klingelknopf ganz durchzudrücken. Aber als es wieder klingelte, hörte sie es, zuckte vor Schreck zusammen und verschüttete fast ihren Kaffee.

      Ihre Gedanken waren gerade zu ihrem Stiefvater Torsten gewandert. Wie er immer die Stirn gehabt hatte, ohne Klamotten herumzulaufen.

      »Ja, ja, ja!«, murmelte sie irritiert und stand auf, als die Klingel schon wieder schrillte. Als sie endlich öffnete, sah sie eine kleine Frau, die offenbar aufgegeben hatte und wieder auf der Treppe auf dem Weg nach unten war. Sie drehte sich sofort um, als sie hörte, dass die Tür geöffnet wurde. Ihr halblanges, graues und strähniges Haar war mit einem Gummiband zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die Schultern hingen, die eine noch mehr als die andere, weil sie eine riesige Tasche trug, deren abgenutzter Riemen ihre Schulter weiter nach unten zog. Ihr Mund war von den feinen, kleinen Falten umgegeben, die einen starken Raucher verrieten. Die Tränensäcke und Augenringe konnten auch auf einen Hang zum Alkohol schließen lassen – vielleicht sogar Drogen. Aber sie trug einen hübschen Mantel mit Pelzkragen und man konnte sehen, dass sie sich mit ihrem Aussehen Mühe gegeben hatte, so gut sie konnte. Die Schicht Rouge war gerade einen Tick zu rot, sodass es statt nach natürlich roten Wangen eher so aussah, als hätte sie ein paar Ohrfeigen bekommen, und der Lippenstift lief in die Falten um den Mund aus. Der blaue Lidschatten war auch nicht glücklich aufgetragen. Aber als Anne in die müden, grauen Augen sah, wuchs ein seltsames Gefühl in ihrer Brust. Sie erinnerten sie an etwas, das sie nicht benennen konnte.

      »Ja?«, sagte sie abweisend und rechnete damit, dass ihr der ›Wachturm‹ gereicht werden würde. Aber die Frau drehte sich mit einem vorsichtigen Lächeln um, und als sie es geschafft hatte, die Treppe hochzugehen, schien es, als wollte sie sie umarmen. Sie bezwang sich zwar, aber die Stimme war belegt. »Anne?«

      Anne nickte verständnislos. Das stand doch auf dem Namensschild an der Tür, also warum fragen? Aber für eine einfache Frage lag in dem Wort auch zu viel Gefühl.

      »Ich hätte dich fast nicht erkannt. Nur die Narbe, die ...« Die Frau streckte die Hand aus, wollte ihre Augenbrauen berühren und wie in einem Flashback sah Anne Torstens Hand an dem Abend, als er sie hier in der Wohnung überrascht hatte. Er hatte auch ihre Narbe anfassen wollen. Es war Roland Benito zu verdanken, dass sie überlebt hatte. Sie packte grob das schmächtige Handgelenk, bevor die Hand sie berühren konnte.

      »Wer bist du?« Die Stimme klang wie ein Fauchen, denn tief in ihrem Innern wusste sie genau, wer die Frau sein musste. Sie hatte die Augen erkannt, und das Gefühl in ihrer Brust musste Hass sein.

      »Darf ich nicht ein bisschen reinkommen, kleine Ann? Es ist so lange her ...«

      Jetzt

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