Im Schatten der Vergeltung. Rebecca Michéle
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Читать онлайн книгу Im Schatten der Vergeltung - Rebecca Michéle страница 10
»George!« Lady Esthers Stimme klang schrill. Der Angesprochene fuhr erschrocken herum, hielt Frederica jedoch mit seinem Arm schützend umschlungen. »Wie kannst du nur!«
Frederica war nicht weniger bestürzt und senkte für einen Moment schuldbewusst den Blick, dann aber straffte sie die Schultern, hob den Kopf und streckte das Kinn nach vorn. Georges Hand an ihrer Taille verlieh ihr Selbstbewusstsein.
»Dein Vater sucht dich.«
Mit hektischen roten Flecken auf den Wangen trat Lady Esther wie ein Racheengel vor die beiden. Zu Fredericas Enttäuschung nahm George seine Hand fort und murmelte: »Ich gehe sofort zu ihm, Mutter.«
Ohne Frederica einen weiteren Blick zu gönnen, eilte er mit weitausholenden Schritten über den geharkten Kiesweg, und das Mädchen stand Lady Esther allein gegenüber.
»Und du, Kind, löst Lady Seelwood umgehend am Stand ab! Die Arme harrt bereits seit Stunden dort aus, weil deine unzuverlässige Mutter es vorgezogen hat, ihr Versprechen zu brechen.«
Fredericas Selbstbewusstsein bröckelte unter Lady Esthers eisigem Blick. Warum musste sie ausgerechnet in diesem Moment auftauchen? Nie zuvor war sie George so nah gewesen. Nur einen Augenblick später und er hätte sie geküsst. Und danach – davon war Frederica überzeugt – hätte er ihr einen Heiratsantrag gemacht, denn ein ehrenwerter Mann küsste eine Frau nur, wenn er sie auch heiraten wollte. Frederica hatte zwar schon beobachtet, wie Dienstboten miteinander flirteten, ohne dass das eine tiefere Bedeutung hatte, einer Dame der Gesellschaft war es erst nach dem Verlobungstag erlaubt, sich allein mit ihrem Bräutigam in einem Raum aufzuhalten. Vielleicht wäre sogar schon heute ihre Verlobung verkündet worden?
Frederica erinnerte sich noch gut an den Skandal, der vor wenigen Monaten das Gesprächsthema der ganzen Grafschaft gewesen war: Ein junger Adliger, der allein am späten Nachmittag mit einem Mädchen in deren Einspänner ausgefahren war, weigerte sich am darauf folgenden Tag, das Mädchen zu ehelichen. Obwohl beide beteuerten, es sei nichts geschehen – was genau überhaupt geschehen sein könnte, lag für Frederica noch immer im Dunkeln –, forderte der Vater des Mädchens den jungen Mann zum Duell. Er verwundete ihn schwer, und das Mädchen wurde daraufhin zu Verwandten in den Norden geschickt. Die gesamte feine Gesellschaft zeigte sich entrüstet über das Verhalten des jungen Adligen und war sich einig, dass der Vater des Mädchens zu recht Satisfaktion gefordert hatte. Wenn ein Mann ein Mädchen also heiraten musste, weil er am helllichten Tage mit ihr ausgefahren war, dann musste sie mit George Linnley nun so gut wie verlobt sein.
Frederica seufzte und bedauerte, dass ihre Mutter nicht hier war. Sie musste unbedingt mit ihr darüber sprechen, obwohl sie wusste, dass Maureen George Linnley nicht besonders mochte. In Fredericas Augen war George nicht nur äußerst attraktiv, er verfügte auch über gute Umgangsformen und Manieren, und tanzte wie ein junger Gott. Wenn sie nur an ihn dachte, begann ihr Herz heftig zu klopfen, wenn sie in seiner Nähe war, konnte sie kaum einen klaren Gedanken fassen. Frederica wusste nicht viel über die Liebe, das alles musste aber doch bedeuten, dass George der Richtige für sie war. Frederica hätte sich zwar andere Schwiegereltern gewünscht, in ihrer jugendlichen Unschuld dachte sie jedoch, dass sich Lady Esthers Verhalten gewiss ändern würde, wenn sie erst einmal in Linnley Park lebte. Frederica sah lediglich im Umgang mit Georges Mutter ein Problem. Von Lord David sah oder hörte man oft tagelang überhaupt nichts. Er saß am liebsten in der Bibliothek und las in dicken Büchern, die nach Fredericas Meinung keinen normalen Menschen interessieren konnten. Gesellschaften wie dieses Gartenfest waren ihm regelrecht verhasst, er machte jedoch gute Miene zum bösen Spiel. Überhaupt tat Lord Linnley alles, um seine Frau friedlich zu stimmen. Frederica hatte den Eindruck, dass ihm nichts wichtiger war als seine Ruhe, dabei war er weder alt noch krank. Er hatte gerade die Fünfzig überschritten, war zwar von kleiner und schmächtiger Statur, jedoch bei guter Gesundheit. Mit ihm werde ich mich gut verstehen, dachte Frederica, und konnte den Moment, wenn ihre Verlobung mit George Linnley verkündet werden würde, kaum noch erwarten.
Was David Linnley betraf, waren sich Frederica und ihr Vater sehr ähnlich. Auch Philipp bedauerte dessen stille Zurückhaltung, denn im Grunde mochte er ihn sehr gern. Wenn er nur nicht so schrecklich phlegmatisch wäre! Linnley sprach nicht viel, und wenn, dann stimmte er seiner Frau zu. In all den Jahren, in denen sie sich kannten, war es Philipp erst einmal gelungen, Linnley aus der Reserve zu locken, als die Männer über den Krieg in Amerika in eine Diskussion geraten waren.
»Der König hat vollkommen recht, der Aufstand muss blutig niedergeschlagen werden«, hatte Philipp sich ereifert.
»Denkt Ihr dabei auch an die vielen unschuldigen Menschen, die ihr Leben verlieren?« Linnleys Blick war trübe, beinahe schon melancholisch gewesen
»Daran hätten sie denken müssen, bevor sie die Waffen gegen ihren rechtmäßigen Herrscher erhoben haben«, beharrte Philipp auf seinem Standpunkt.
Linnley schüttelte den Kopf. So leise, dass Philipp Mühe hatte, ihn zu verstehen, sagte er: »Krieg ist das Grausamste, das es auf dieser Welt gibt. Es lässt sich kein vernünftiger Grund finden, einen Krieg zu beginnen und ihn zu führen. Wenn Sie so viele Schlachten miterlebt hätten wie ich, Sir Philipp, würden Sie anders darüber urteilen. Als Sie in Schottland stationiert waren, waren die Kampfhandlungen lange vorbei und Sie durften sich um Verwaltungsangelegenheiten kümmern. Culloden allerdings ...« Er brach ab und drehte den Kopf zur Seite.
»Sie waren in Culloden dabei, Mylord?«, fragte Philipp erstaunt und beinahe schon ehrfurchtsvoll. »Sie haben mitgeholfen, die Jakobitenaufstände niederzuschlagen und den Thronräuber aus dem Land zu scheuchen?« Nie zuvor hatte Linnley auch nur eine kleine Andeutung gemacht, dass er in der Armee gedient hatte. Philipp war immer davon ausgegangen, Lord David habe sein ganzes Leben in Linnley Park verbracht. »In welchem Fort waren Sie stationiert? Und haben Sie den Herzog von Cumberland persönlich kennengelernt?«, erkundigte er sich interessiert.
David Linnley schritt bedächtig auf und ab, blieb dann vor Philipp stehen und beugte sich so tief zu ihm hinab, bis nur noch eine Handbreit ihre Gesichter trennte.
»Ich sage Ihnen eines, junger Freund: Das, was ich in Schottland erlebt habe, war das Widerwärtigste, das ich in meinem ganzen Leben sehen und erdulden musste. Ich war jung, nicht einmal achtzehn Jahre alt, und folgte dem Willen meines Vaters. Deswegen trat ich in die Armee ein. Ich weiß, es klingt grausam, aber als mein Vater vier Monate nach der blutigen Schlacht im Culloden Moor starb und ich gezwungen war, meinen Abschied zu nehmen und nach Cornwall zurückzukehren, um den Besitz zu übernehmen, dankte ich Gott auf den Knien dafür.«
»Lord David!«
Er winkte ab und seine Mundwinkel zogen sich nach unten.
»Sehen Sie mich nicht so entsetzt an, Philipp. Natürlich trauerte ich um meinen Vater, das Glücksgefühl, niemals wieder nach Schottland zurückgehen zu müssen, überdeckte jedoch alle anderen Empfindungen. Glauben Sie mir, wenn Sie nur einen Bruchteil von dem, was ich gesehen habe, erblickt hätten, würden Sie verstehen, dass meine Hand niemals wieder eine Waffe führen kann.«
»Erzählen Sie mir davon«, forderte Philipp David Linnley auf, er schüttelte aber den Kopf und sah aus dem Fenster in den Park, wo Lady Esther und Maureen mit dem Flechten von Blütenkränzen beschäftigt waren.
»Wir sollten die Damen nicht länger warten lassen«, sagte er leise, wandte sich zur Tür und ging langsamen Schrittes, als wäre er