Im Schatten der Vergeltung. Rebecca Michéle
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Читать онлайн книгу Im Schatten der Vergeltung - Rebecca Michéle страница 11
Erregt zerrten Maureens Finger so lange an dem bestickten Taschentuch in ihren Händen, bis der duftige Batist einriss.
»Philipp, kannst du nicht verstehen, dass ich meinen Vater noch einmal sehen möchte?«
»Warum, Maureen? Warum willst du Wunden, die längst verheilt sind, wieder aufreißen? Du bist diesen Menschen nichts schuldig, sie haben dich vor langer Zeit verstoßen.«
»Es sind meine Eltern. Das werden sie immer bleiben.«
Maureens Worte ließen Philipp nicht unberührt. Er trat hinter ihren Stuhl und legte eine Hand auf ihre Schulter.
»Waren sie denn jemals wirkliche Eltern für dich? Haben sie dir die gleiche Liebe gezeigt, die wir Frederica entgegenbringen?«
Stumm schüttelte Maureen den Kopf. Unmittelbar nachdem Philipp aus Linnley Park zurückgekehrt war, hatte sie ihm den Brief gezeigt und den Wunsch geäußert, so schnell wie möglich nach Schottland zu reisen. Während er die wenigen Zeilen las, hatte sie die Missbilligung in seinem Gesicht erkannt und die stumme Frage, warum sie zu diesen Menschen zurückkehren wollte. Wozu Erinnerungen heraufbeschwören, die man besser begrub?
»Ich könnte es mir niemals verzeihen, Vater seinen letzten Wunsch nicht erfüllt zu haben«, sagte Maureen leise, aber bestimmt.
Philipps Finger trommelten auf der Stuhllehne, ein Zeichen seiner Ungeduld.
»Wir wissen nicht, wie lange der Brief unterwegs war. Für eine Reise nach Schottland würden wir ungefähr drei Wochen benötigen. Es ist durchaus möglich, dass dein Vater längst tot ist, wenn du Edinburgh erreichst. Außerdem lautet sein letzter Wunsch, dass du ihm schreibst, und dagegen habe ich auch keine Einwände.«
»Zwei Wochen!«
»Wie bitte?«
»Wir können die Reise in zwei Wochen bewältigen. Das Wetter ist trocken und warm, die Straßen werden gut passierbar sein. Von mir aus können wir morgen bei Sonnenaufgang abreisen. Ich habe bereits alle Vorbereitungen getroffen.«
Philipp seufzte. Langsam verlor er die Geduld. Maureen konnte ihn mit ihrer Uneinsichtigkeit manchmal rasend machen! Dass sie sich von einem einmal gefassten Entschluss nicht abbringen ließ, hatte sie schon oft bewiesen. Er unternahm einen letzten Versuch.
»Ich denke nicht, dass Frederica Lust verspürt, den Rest des Sommers in Schottland zu verbringen. Sie sollte Gelegenheit bekommen, das Band, das sich zwischen ihr und George Linnley gewoben hat, zu festigen, oder wir reisen wie geplant nach London.«
Wütend fuhr Maureen zu Philipp herum, ihre grünen Augen funkelten.
»Wie kannst du das befürworten? Hast du vergessen, was Lady Esther über unsere Tochter gesagt hat? Außerdem ist die Heirat Georges mit dieser entfernten Verwandten der Linnleys so gut wie beschlossen. Aus diesem Grund sollten wir Frederica so schnell wie möglich von hier fortbringen, damit sie Abstand gewinnt. Sie ist noch so jung! Die neuen Eindrucke einer solchen Reise werden sie Linnley schnell vergessen lassen.«
»Das glaube ich nicht.«
Überrascht schauten Maureen und Philipp zur Tür, im Rahmen stand Frederica mit offenem Haar und im Morgenmantel. Weder Maureen noch Philipp hatten ihr Eintreten bemerkt. Auch aus Fredericas Blick sprühten Funken, und sie sah wie das jüngere Ebenbild ihrer Mutter aus.
»Kind, du solltest längst im Bett sein. Du wirst dich noch erkälten«, unternahmen Maureen den Versuch, das Thema zu wechseln, Frederica ließ sich aber nicht ablenken.
»Niemals wird George diese Frau heiraten, denn er liebt mich. Ich bin überzeugt, er wird mir noch in diesem Sommer einen Antrag machen. Und ich werde ihn annehmen!« Trotzig stampfte sie mit ihrem bloßen Fuß auf.
»Du bist noch nicht mündig«, sagten Maureen und Philipp wie aus einem Munde. Überrascht blickten sie sich an. In letzter Zeit war es selten vorgekommen, dass sie einer Meinung waren.
»Du gehst sofort wieder ins Bett«, fuhr Philipp fort. »Wir sprechen über die Angelegenheit, wenn es so weit ist. Also marsch, nach oben mit dir.«
Frederica unterdrückte ein Lächeln und zwinkerte ihrem Vater zu. Seine strengen Worte waren durch einen zärtlichen Unterton gemildert worden. Frederica wusste, dass er auf ihrer Seite stand, darum richtete sie das Wort an ihre Mutter:
»Wenn du partout mein Glück zerstören willst, dann brenne ich mit George eben durch! Ihr habt nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass eure Eltern gegen eure Verbindung waren – warum, das habt ihr mir ja nie erzählt.« Anklagend blickte sie ihre Eltern an. »Eure Liebe zueinander war aber stärker als alle Konventionen, nicht wahr? Folglich kannst du mir nicht vorschreiben, wen ich zu heiraten habe, Mama!«
Bevor Maureen etwas erwidern konnte, machte Frederica kehrt und schlug die Tür hinter sich zu. Maureen schnappte nach Luft.
»Was sagt man dazu?«
Philipp versuchte nicht, sein Lächeln zu verbergen.
»Sie ist deine Tochter, daran besteht wahrlich kein Zweifel, und wo sie recht hat, hat sie recht, das musst du zugeben. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du dich jemals dem Willen anderer Menschen gebeugt hast.«
Die Erkenntnis, dass Frederica ihr langsam, aber sicher entglitt, machte Maureen traurig. Sie schob in der für sie typischen Geste die Unterlippe nach vorn und murmelte: »Ich werde nach Edinburgh fahren. Wenn du mich nicht begleiten möchtest, dann reise ich eben allein. Das ist mein Ernst!«
2. Kapitel
Edinburgh, Schottland - September 1780
»Halten Sie, Mann! Halten Sie sofort an!«
Noch bevor die Kutsche zum Stillstand gekommen war, riss Maureen die Tür auf und sprang hinaus. Sie versank bis zu den Knöcheln im Matsch der unbefestigten Straße, es kümmerte sie aber nicht.
»Ist sie nicht wunderschön? Komm Frederica, du musst dir die Burg ansehen.«
Unwillig streckte das Mädchen den Kopf aus dem Fenster und warf nur einen kurzen Blick auf die trutzige Festung, die majestätisch auf einem fast senkrecht abfallenden Felsen thronte.
»Sind wir jetzt endlich da?«, fragte sie. »Mir ist kalt und ich habe Hunger.«
Seit drei Stunden regnete es nicht mehr, der Himmel war aber immer noch mit dicken dunklen Wolken bedeckt, und der Wind war kalt. Je weiter die kleine Reisegruppe nach Norden gekommen war, desto seltener hatte sich die Sonne am Himmel blicken lassen, und der Regen war zu ihrem täglichen Begleiter geworden.
Nach zuerst heftigem Widerstand hatte Frederica schließlich die Reise in eine ihr unbekannte Welt dann doch mit gespannter Erwartung angetreten.