Im Schatten der Vergeltung. Rebecca Michéle
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Maureen reagierte gelassen auf die Launen ihrer Tochter. Ihre innerliche Anspannung wuchs von Meile zu Meile. Es war eine Mischung aus Vorfreude und Angst. Was würde sie in Edinburgh erwarten? In welcher Verfassung würde sie ihre Eltern antreffen? Lebte ihr Vater überhaupt noch, und wie würde ihre Mutter auf das unverhoffte Wiedersehen reagieren?
Nach einer Nacht, in der Maureen und Philipp hin und her diskutiert hatten, hatte Philipp schließlich zugestimmt, Maureen nach Schottland zu begleiten. Widerwillig zwar, aber er wusste, dass Maureen tatsächlich ohne ihn reisen würde. Das würde einen unglaublichen Skandal bedeuten, den Philipp unter allen Umständen verhindern musste. So war es das kleinere Übel, wenn sich die ganze Familie auf die Reise begab. Philipp bestand darauf, bereits im Vorfeld eine geeignete Bleibe in Edinburgh zu suchen, auf keinen Fall wollte er in einer fremden Stadt ankommen und nicht wissen, wo seine Familie wohnen würde. Als junger Mann war er mit seinem Regiment einige Wochen in Edinburgh stationiert gewesen, kannte daher die Zustände in der überfüllten Stadt, die wie ein zerrupftes Krähennest auf dem mächtigen Vulkanfelsen thronte. Philipp erinnerte sich an Sir Gordon, einem Parlamentsmitglied aus London. Vor einiger Zeit hatte Sir Gordon erwähnt, sein neu erbautes Edinburgher Stadthaus würde Freunden jederzeit zur Verfügung stehen. Philipp hoffte auf die Aufrichtigkeit des Angebots, sandte eine Nachricht an Sir Gordon und bat ihn, die Bediensteten über ihre Ankunft zu unterrichten.
»Maureen, steige bitte wieder in die Kutsche, die Burg wird auch morgen noch da sein. Ich bin froh, wenn wir unser Ziel endlich erreicht haben«, sagte Philipp.
Während der verbleibenden Fahrt starrte sie hinaus auf die vorüberziehende Landschaft. Sie knetete so nervös ihre Finger, dass die Gelenke knackten.
»Sieh mal, das Nor’Loch ist fast völlig verschwunden!«, rief sie und drückte ihre Nase an die Scheibe. »Und da hinten wurde eine Brücke gebaut.«
Endlich rumpelte die Kutsche über das Kopfsteinpflaster der Stadt. Es waren nur flüchtige Eindrücke, die Maureen und Philipp aufnahmen, sie bemerkten aber beide, dass sich die schottische Hauptstadt in den letzten Jahren stark verändert hatte. Im Norden, dort, wo sich früher ein Sumpfgelände befunden hatte, waren neue Straßen und Häuser entstanden. In diesem Gebiet, am Charlotte Square, einem quadratischen Platz, der den eleganten Wohnvierteln in London in nichts nachstand, befand sich auch das Haus von Sir Gordon. Das hohe und schmale Gebäude war im vergangenen Jahr fertig gestellt worden und lag inmitten einer Reihe von gleichartigen herrschaftlichen Wohnhäusern. In der Gesellschaft war es chic geworden, ein Haus in Edinburgh zu besitzen, auch wenn die Reise von Südenglang weit und anstrengend war, und die adligen Engländer nur selten das Land im Norden besuchten. Von den Schotten im Allgemeinen hielt man ohnehin nicht viel, aber Hauptsache, man folgte dem neuesten Trend. Schließlich wollte sich niemand nachsagen lassen, er könne sich kein Stadthaus leisten.
Sie wurden bereits erwartet. Ein livrierter Diener führte Maureen, Philipp und Frederica in eine kleine Eingangshalle, dann sorgte er dafür, dass das Gepäck entladen wurde. Sie schlenderten durch das Haus, das von innen wesentlich geräumiger war, als sein Äußeres vermuten ließ. Im Erdgeschoss befanden sich neben der Halle die Bibliothek und ein kleineres Damenzimmer. Im ersten Obergeschoss lagen das Speisezimmer, der Salon und ein Raum, in den sich die Herren zum Rauchen zurückziehen konnten. Im nächsten Stockwerk waren drei Schlafzimmer, dann gab es noch zwei Dienstbotenkammern unterm Dach. Die Küche, Vorratsräume und weitere Dienstbotenquartiere befanden sich im Souterrain. Selbst das Kellergeschoss war gut ausgeleuchtet und durch einen Graben, den man sechs Fuß breit und neun Fuß tief zwischen sämtlichen Häusern gezogen hatte, gut belüftet. Der Graben war mit einem eisernen Geländer eingezäunt, und eine schmale Treppe führte zu dem separaten Kellereingang. Im ganzen Haus roch es nach Holz und frischer Farbe, und alle Räumlichkeiten waren mit modernen und hellen Möbeln eingerichtet.
»Herzlich Willkommen, Sir … Mylady … Miss …« Ein junges, dünnes Mädchen mit einem starken schottischen Akzent knickte demütig. »Mein Name ist Jenny, ich werde Ihnen, Mylady, und Ihnen, Miss, als Zofe zur Hand gehen.«
»Das ist sehr aufmerksam von Sir Gordon«, erwiderte Maureen freundlich. »Unsere eigene Zofe konnte uns leider nicht begleiten.«
Ihre Zofe Nelly hatte Maureen nicht mitnehmen wollen, da sie niemandem den wahren Grund der plötzlichen Reise verraten hatte. Sie wusste nicht, was sie in Edinburgh erwartete – es konnte von Vorteil sein, wenn Nelly nicht wusste, dass sie ihre Eltern aufsuchen wollte.
»Sie werden erschöpft sein«, fuhr Jenny fort. »Ich veranlasse sofort, dass ein Bad gerichtet wird, und die Köchin hat bereits alles für das Abendessen vorbereitet.«
Ungeduldig schüttelte Maureen den Kopf. »Ich möchte sofort zu meinen Eltern«, sagte sie und holte den zerknitterten Brief mit der Adresse aus ihrer Rocktasche, wo sie ihn während der ganzen Reise aufbewahrt hatte.
»Das halte ich für keine gute Idee«, gab Philipp zu bedenken. »Es wird bald dunkel. Wir sollten uns heute Abend ausruhen und morgen Vormittag erfrischt und in aller Form bei deinen Eltern vorsprechen. Maureen, wir haben eine lange und anstrengende Reise hinter uns. Frederica fallen vor Erschöpfung beinahe die Augen zu, und auch du siehst erschöpft aus.«
»Ich werde nach dem Bad sofort ins Bett gehen.« Frederica gähnte hinter vorgehaltener Hand. »Ich habe auch keinen Hunger. Ich hoffe nur, dass die Betten bequem sind.«
Jenny nickte eifrig und bedeutete ihr, sie nach oben zu begleiten.
»Gute Nacht.« Frederica küsste ihre Eltern auf die Wangen, dann folgte sie dem Hausmädchen in den zweiten Stock hinauf.
Maureen trat aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. Sie trug immer noch ihren Mantel, den Hut und die Handschuhe.
»Ich fühle mich kein bisschen müde. Ich kann jetzt nicht zu Bett gehen und schlafen. Ich würde ohnehin kein Auge zu tun.«
»Ich habe den Kutscher bereits fortgeschickt. Du wirst dich also bis morgen gedulden müssen.« Philipps Tonfall ließ keinen Widerspruch zu.
»Ach was, ich brauche keine Kutsche. Die Stadt ist nicht sehr groß, wir können zu Fuß gehen.«
Philipp seufzte ungehalten.
»Maureen, jetzt sei doch vernünftig! Es ist niemandem damit gedient, die Dinge zu überstürzen. Ich werde mich nun auch ein wenig ausruhen und freue mich dann auf ein hoffentlich schmackhaftes Dinner.«
Er ging ebenfalls die Treppe hinauf. Maureen blieb allein in der Halle zurück und sah sich unschlüssig um. Nein, sie konnte nicht warten! Sie wollte nicht warten! Über siebzehn Jahre hatte sie ihre Eltern nicht gesehen. Jetzt war sie ihnen so nahe, nur wenige Straßenzüge trennten sie von ihnen.
Kurzentschlossen öffnete sie die Tür und trat auf die Straße. In dem in den letzten Jahren neu entstandenen Stadtviertel, das allgemein nur New Town genannt wurde, waren die Gehwege gepflastert und auffallend sauber. Maureen ging am Rande des Nor’Loch entlang und überquerte das früher stinkende Sumpfloch, von dem nur noch ein kleiner Tümpel übrig geblieben war, auf der neuen Brücke. Nach wenigen Schritten erreichte sie die Royal Mile, das mittelalterliche Herz der Altstadt, und tauchte ein in ein verwirrendes Labyrinth aus Straßen, kleinen Gassen, dunklen Winkeln, Höfen und versteckten Durchgängen. Maureen, die mit Philipp einige Tage in Edinburgh verbracht hatte, war erstaunt, wie eng, schäbig und schmutzig sich die alte Stadt darbot. Damals hatte sie das überhaupt nicht bemerkt, war nur glücklich gewesen, mit Philipp ein neues Leben zu beginnen.
Sie fragte zwei Passanten, der Kleidung nach Handwerker, nach dem Weg zu der