Im Schatten der Vergeltung. Rebecca Michéle
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Читать онлайн книгу Im Schatten der Vergeltung - Rebecca Michéle страница 16
Maureen wartete geduldig, bis Laura ihr karges Mahl beendet hatte, dann fragte sie: »Warum lebst du hier? Auf dem Brief war eine Adresse am Grassmarket angegeben, dort sagte man mir, du musstest fortziehen. Warum seid ihr überhaupt nach Edinburgh gegangen? Vater wollte doch nie in die Stadt.«
Laura sah ihre Tochter so lange an, dass sich Maureen fragte, ob sie ihre Fragen verstanden hatte. Schließlich sagte sie mit einem resignierten Unterton: »Nun gut. Wenn du schon einmal hier bist, dann kann ich dir auch alles erzählen. In wenigen Tagen wirst du an der Seite deines adligen Ehemannes in einer komfortablen Kutsche in dein sicher nicht weniger elegantes Heim nach England zurückkehren und an mich und Schottland keinen Gedanken mehr verschwenden.«
»Mutter, wie kannst du so etwas denken?«, begehrte Maureen auf. »Warum kannst du deinen Hass nicht endlich begraben? Culloden und alles, was damit zusammenhängt, liegt Jahrzehnte zurück! Wir sind ein Volk – ob Schotten, Engländer oder Waliser! Viel wichtiger ist es doch, dass ich in England mein Glück gefunden habe.« Sie konnte den Blick ihrer Mutter nicht deuten. Es war eine Mischung aus Abscheu, Bitterkeit und Verzweiflung. Schnell fuhr sie fort: »Ich bin aber nicht gekommen, um über die Vergangenheit zu diskutieren. Mich interessiert, wie es euch ergangen ist. Warum musste Vater sterben? War er krank?«
»Er hatte einen Unfall, oben in Beechgrove«, antwortete Laura bereitwillig. »Eines der Pferde ging durch, wahrscheinlich wurde es von einem Kaninchen erschreckt. John konnte nicht mehr rechtzeitig abspringen und die Kutsche begrub ihn unter sich. Seine Beine wurden zertrümmert, und er hatte sich das Rückgrat verletzt. Der Laird und die Lady waren zwar erschüttert und bezahlten den Arzt, als jedoch klar wurde, dass John nie wieder auf dem Kutschbock würde sitzen können, war es mit ihrer Wohltätigkeit schnell vorbei. Meine Arbeit als Küchenmagd rechtfertigte nicht mehr unsere Anwesenheit in der Kutscherwohnung, und einen Invaliden wollten sie nicht durchfüttern. Also gingen wir nach Edinburgh. Ich dachte, hier würde es für John leichter sein, eine Anstellung zu finden, doch niemand wollte einen alten Mann mit zwei lahmen Beinen beschäftigen. Ich will jetzt nicht aufzählen, wo und bei wem ich die schmutzigsten Arbeiten verrichtet habe, es gelang mir aber, uns über Wasser zu halten. Wir kamen schließlich so weit zurecht, um zwei große Zimmer am Grassmarket anzumieten, aber Johns Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends. Ich glaube, er hatte seinen Lebenswillen verloren. Wie du weißt, war dein Vater ein Hochländer durch und durch, der die Bens und Glens liebte und die Gegend niemals verlassen wollte. Das Leben in der Stadt raubte ihm die letzten Kraftreserven. Schließlich lag er nur noch da, aß nichts mehr und sprach kein Wort. Er beschloss, lieber zu sterben, als dieses armselige Leben zu fristen. Vor zwei Wochen schloss er für immer die Augen.« Laura machte eine Pause, und Maureen wagte nicht, etwas zu sagen. Schließlich fuhr sie fort: »Nach Johns Tod musste ich die Wohnung aufgeben. Sie war viel zu groß und zu teuer für eine Person. Ich bin eine alte Frau, mir reicht dieses Zimmer, bis ich meinem Mann folgen werde.«
Erschüttert hatte Maureen zugehört. Sie empfand Mitleid, gleichzeitig jedoch wunderte sie sich über Lauras Verhalten.
»Warum hast du mir nicht früher geschrieben? Wir hätten alles getan, das in unserer Macht steht, um euch zu helfen. Mein Gott, ihr seid meine Eltern!« Maureen atmete tief durch. »Wenn es auch für Vater zu spät ist – du kannst mit uns nach England kommen.«
Lauras Blick war so verächtlich, als hätte Maureen ihr zugemutet, einen Kübel mit Mist auszulöffeln.
»Bevor ich einen Fuß nach England setze, sterbe ich lieber!«
Maureen schlug mit der Faust auf den wackligen Tisch. Ein Becher kippte um, und das Bier tropfte auf die Dielenbretter.
»Mutter, es ist schrecklich, was einst geschehen ist, aber heute regiert König George England wie auch Schottland. Daran können weder du noch ich etwas ändern. Du musst dich endlich mit den Begebenheiten abfinden und versuchen zu verzeihen. Nicht alle Engländer sind schlecht. Ich bin seit Jahren mit einem Engländer verheiratet, England ist mein Zuhause, und ich habe englische Freunde. In den Adern deiner Enkelin fließt englisches Blut. Ich habe keinen einzigen Tag des Lebens, das ich gewählt habe, bereut.«
Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber Maureen wollte Laura gegenüber nicht zugeben, wie schwer es gewesen war, in England Fuß zu fassen und mit welchen Schwierigkeiten sie noch heute zu kämpfen hatte. Das würde ihre Mutter nur in ihrer Abneigung gegen alles Englische bestätigen.
»Die Engländer sind Menschen wie du und ich«, fuhr sie etwas sanfter fort. »Sie lachen, sie weinen und sie haben Probleme – ebenso wie alle Menschen auf der Welt.« Sie stand auf und ging zur Tür. »Ich sehe mal, ob die Wirtin eine anständige Flasche Schnaps für uns hat. Ich brauche jetzt etwas Stärkeres.«
Als sie nur wenig später mit einem Krug Whisky in die Kammer zurückkehrte, fand sie ihre Mutter hustend und würgend auf dem Bett. Ihr Zorn verflog. Sie kniete sich neben Laura, strich über ihren Rücken und hielt ihre Hand, bis der Anfall vorüber war.
»Das ist eine wirklich hartnäckige Erkältung«, erklärte Laura den Husten. »Ich mache mir nachher einen Umschlag aus heißen, zerstampften Kartoffeln.«
»Was meint der Arzt?« Maureen verbarg nicht ihre Sorge. Laura wich ihrem fragenden Blick aus, und in Maureen stieg ein Verdacht auf. »Du hast doch einen Arzt konsultiert?«
Die Mutter schüttelte den Kopf. »Ach was, diese Quacksalber verlangen nur einen Haufen Geld und haben ohnehin keine Ahnung. Es ist nur eine harmlose Erkältung.«
Maureen gab sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden. Sie kannte diesen Husten, der sich bellend aus der Kehle rang. Viele der Arbeiter in den cornischen Zinn- und Kupferminen litten an den gleichen Beschwerden. Der jahrelange Staub, tagaus, tagein metertief unter der Erde eingeatmet, löste langsam, aber sicher die Lunge auf. Die Bedauernswerten erlitten einen qualvollen Erstickungstod. Die Angst um die Mutter griff wie eine kalte Hand nach Maureens Herz.
»Komm mit mir in das Haus in der Neustadt, dort ist es warm und gemütlich, und du kannst in aller Ruhe wieder gesund werden.«
»Niemals!«
Demonstrativ drehte Laura ihr den Rücken zu, und Maureen beschloss, es für heute gut sein zu lassen. Laura hatte sich mehr geöffnet, als Maureen es erwartet hatte.
»Ich komme wieder, Mutter, das kannst du mir nicht verbieten, und ich werde dir deine Enkelin bringen. Sie hat ein Recht darauf, dich kennenzulernen.« Den Türknauf bereits in der Hand, wandte sie sich ein letztes Mal zu ihrer Mutter um. »Vielleicht gelingt es Frederica, dein verbittertes Herz zu erwärmen. Ich kämpfte ja bis heute vergeblich dafür.«
Dieses Mal verschonte Philipp Maureen mit Vorwürfen über ihre späte Heimkehr. Er brauchte seiner Frau nur ins Gesicht zu sehen, um zu erkennen, in welch schlimmer Verfassung sie war. Stumm breitete er seine Arme aus. Maureen lehnte ihren Kopf an seine breite Brust und fühlte sich wie ein Kind, das sich verirrt hatte und nun endlich heimgekehrt war. In diesem Moment waren alle Unstimmigkeiten vergessen. Philipp war ihr Fels in der Brandung, der Mann, in den sie sich vor siebzehn Jahre verliebt hatte, den sie noch immer liebte, bedingungslos vertraute und der immer an ihrer Seite war. Auch nach all den Jahren gab Philipp ihr eine Geborgenheit,