Im Schatten der Vergeltung. Rebecca Michéle
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Читать онлайн книгу Im Schatten der Vergeltung - Rebecca Michéle страница 13
»Ich suche Laura Mowat. Sie muss hier im Haus wohnen.«
Die Alte verzog ihr faltiges Gesicht und stieß ein Geräusch aus, das Maureen an das Grunzen eines Schweines erinnerte.
»Wohnt nich mehr hier. Die is fort.«
Die Alte wollte ihr die Tür vor der Nase zuschlagen, aber Maureen stellte schnell einen Fuß in den Spalt.
»Fort? Was heißt das? Wohin ist sie gegangen?«
Mit einer Gewandtheit, die man ihr nicht zugetraut hätte, machte die Frau einen Schritt auf Maureen zu. Diese traf ein Schwall von übel riechendem Atem. Schnell drehte sie den Kopf zur Seite.
»Na, weg isse. Hat die Miete nich zahlen können. Bin hier schließlich kein Armenhaus. Hier muss jeder pünktlich zahlen oder verschwinden.«
»Sie wissen doch sicher, wo sie jetzt wohnt, oder?«, fragte Maureen hoffnungsvoll.
»Nee, kümmre mich nich um andre Leute, hab selbst genügend Probleme.«
Eine Welle der Enttäuschung schwappte über Maureen. Sie war so nahe am Ziel gewesen! Wie sollte sie in der großen Stadt nun ihre Eltern finden?
Die Alte musterte sie in dem schwachen Licht der Ölfunzel von oben bis unten, griff dann nach Maureens Mantelärmel. Ihre wurstigen, schmutzigen Finger betasteten den feinen Seidenstoff. Sie stieß einen anerkennenden Pfiff aus.
»Was will denn ’ne so feine Dame von der Mowat?«
Maureen holte eine Münze aus ihrer Börse und hielt sie der Frau hin.
»Das wird Ihnen die Auskunft, wo Laura Mowat zu finden ist, wert sein, nicht wahr?«
Maureen konnte ihre Hand gar nicht so schnell fortziehen, wie die Alte nach der Münze grapschte und in ihrem Ausschnitt verschwinden ließ.
»Weiß wirklich nich, wo die Mowat hin is ...«
Wie dumm von mir, dachte Maureen, jetzt hat sie das Geld, und ich bin genauso schlau wie zuvor. Vielleicht wäre sie doch besser mit Philipp hergekommen. Vor einem Mann hätte die Vettel bestimmt mehr Respekt gezeigt. Maureen seufzte und wandte sich ab. Es war sinnlos, sich weiter mit der Frau zu unterhalten, außerdem begann ihr Magen über den widerwärtigen Geruch zu rebellieren.
»Aber sie geht jeden Tag zum Friedhof«, rief die Alte plötzlich.
Maureen drehte sich wieder um. »Wie bitte?«
»Ja, ja. Zumindest hat se das gemacht, als se noch hier wohnte. Jeden Tag! Arme Frau, hat doch ihren Mann dort begraben müssen.«
Maureens Beine begannen so sehr zu zittern, dass sie sich an die Wand lehnen musste – ungeachtet der Tatsache, dass ihr Mantel beschmutzt wurde. Was sie die ganze Fahrt über befürchtet hatte, war zur schrecklichen Gewissheit geworden. Sie war zu spät gekommen! Ihr Vater war tot. Gestorben, ohne dass sie, Maureen, noch einmal mit ihm hatte sprechen können. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, und sie kämpfte mit den Tränen.
»Geht’s Ihnen nich gut?« Die Alte kam zögernd näher und griff nach Maureens Arm. »Wolln Se ’nen Becher Wasser?«
Maureen schüttelte den Kopf und machte einen Schritt zur Seite.
»Nein, danke. Es geht schon wieder.« Das Letzte, was sie wollte, war, aus einem Gefäß zu trinken, das die Lippen dieser Frau berührt hatten. »Welcher Friedhof?«, brachte sie mühsam hervor.
»Hä?«
»Zu welchem Friedhof geht Mrs Mowat?«
»Aye, Greyfrairs. Aber da könn Se jetzt nich mehr hin. Die Tore schließen bei Dunkelheit.«
Maureen nickte geistesabwesend, ließ die Alte stehen und tastete sich durch den düsteren Flur. Wieder auf der Straße atmete sie tief ein und aus. Auch wenn die Gassen mit Abfall überhäuft waren – gegen die Luft in dem baufälligen Haus roch es hier geradezu paradiesisch.
Dann ging alles sehr schnell. Über ihr schrie eine laute Frauenstimme etwas Unverständliches. Im selben Moment, als Maureen nach oben sah, wurde sie auch schon ruckartig am Arm gepackt und zur Seite gerissen. Sie strauchelte und fand sich im nächsten Moment an einer breiten Männerbrust wieder. Alles, was sie erkennen konnte, war ein weißes, gestärktes Hemd und darüber eine dunkelbraune Weste. Neben ihr platschte eine übel riechende Flüssigkeit auf das Pflaster, die auf ihren Rock und auf ihren Mantel spritzte.
»Oh!« Obwohl Maureen hochgewachsen war, musste sie den Kopf weit in den Nacken legen, um das Gesicht des Fremden erkennen zu können, der sie immer noch mit beiden Armen umklammert hielt. »Würden Sie mich bitte sofort loslassen?«
Er tat es unverzüglich, und Maureen trat schnell einen Schritt von ihm fort.
»Das war knapp.«
Seine tiefe, wohlklingende Stimme mit dem unverkennbaren schottischen Akzent passte zu seiner Erscheinung. Er war sehr groß, verfügte über ein markantes, leicht vorspringendes Kinn und sein schwarzes Haar war kurz und glatt. Maureen hatte keine Angst, denn alles an dem Mann wies auf einen Gentleman hin.
»Was ... ist passiert?«, fragte sie und sah auf die Straße. Nur ein paar Fuß weiter befand sich eine Pfütze voller Speisereste und Exkremente.
Der Fremde sah sie verständnislos an.
»Haben Sie den Warnruf nicht gehört?«
»Welchen Ruf?«
»Gardyloo natürlich! Sie hätten mit Haud yer hand! antworten müssen. Sie sind wohl nicht von hier?«
»Gardie… was? Ja, da hat jemand etwas gerufen. Ich wollte gerade nachsehen, was los ist, als Sie mich auch schon an sich gerissen haben.«
Der Mann lachte. Er war nicht mehr jung, gewiss einige Jahre älter als Maureen. Um seine Augen spielten zahlreiche feine Fältchen.
»Gardyloo bedeutet so viel wie Vorsicht Wasser, das allerdings nicht immer der Realität entspricht«, setzte der Fremde zu einer Erklärung an. »Meistens sind es ganz andere Dinge als nur Wasser, die aus den Fenstern auf die Straße geschüttet werden. Das schottische Wort ist eine Abwandlung des französischen Begriffes gardez l´eau und wird seit den Zeiten Maria Stuarts in Edinburgh allgemein verwendet.«
»Ach?« Maureen krauste ihre Nase. »Dann muss ich Ihnen wohl dankbar sein. Sie haben recht, ich war eine lange Zeit nicht mehr in Schottland. Ich lebe in Cornwall.«