Im Schatten der Vergeltung. Rebecca Michéle
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Читать онлайн книгу Im Schatten der Vergeltung - Rebecca Michéle страница 22
Durch den dünnen Stoff ihres Kleides, befingerte er ihre Brust, sie spürte die schwielige Hand und die Angst nahm ihr den Atem. Wie hatte sie nur so leichtsinnig sein können, bei Dunkelheit allein durch die Altstadt zu gehen!
»Olala, das ist aber ein feines Stöffchen, du machst wohl auf Dame, was?«, raunte einer der Kerle. »Bei dem Wetter musste froh sein, wenn du überhaupt Kundschaft bekommst.«
Verzweifelt versuchte Maureen sich zu befreien, doch der Mann hatte dazugelernt. Sein Griff war wie aus Eisen, noch einmal würde er sich nicht treten lassen.
»Ich bin eine ehrbare Frau.«
Im selben Augenblick wusste Maureen, wie dumm dieser Satz klang. Keine ehrbare Frau war um diese Uhrzeit und bei dem Wetter allein in der Altstadt unterwegs. Trotzdem nahm sie ihre ganze Kraft zusammen und rief: »Wenn mein Mann davon erfährt, wird er euch töten!«
Tatsächlich wurde die Umklammerung nun ein wenig gelockert, und ein bärtiges, schmutziges Gesicht kam immer näher. Aufgesprungene Lippen versuchten sie zu küssen. Angewidert von dem üblen Geruch, den der Mann verströmte, drehte Maureen den Kopf zur Seite.
»Hey, Rob, ich glaube, das ist gar keine Hure ...«
»Das glaube ich auch, meine Herren! Und jetzt ist es wohl besser, ihr nehmt eure Füße in die Hand und macht, dass ihr wegkommt. Oder wollt ihr Bekanntschaft mit meinem kleinen Freund hier machen?«
Erleichtert hörte Maureen die fremde Stimme und sah das Aufblitzen einer Pistole im Nebel. Sie wurde so hastig losgelassen, dass sie taumelte. Der Fremde konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie in den Straßenschmutz fiel.
»Ich danke Ihnen. Sie ...«
Maureen stockte. Sie hatte ihren Blick zum Gesicht ihres Retters erhoben. Alan McLaud! Im selben Moment erkannte er sie ebenfalls.
»Ach, sieh mal einer an! Tja, ich scheine das zweifelhafte Vergnügen zu haben, stets die falschen Frauen zu retten.«
Maureen ballte ihre Hände zu Fäusten und holte tief Luft. Sie wollte keineswegs die Beherrschung verlieren. McLaud wich vorsichtshalber einen Schritt zurück, er lächelte spöttisch.
»Ich zweifle ernsthaft daran, dass Sie wirklich eine Lady sind. Dafür treiben Sie sich zu oft an zwielichtigen Orten zu denkbar unüblichen Uhrzeiten und darüber hinaus in äußerst fragwürdiger Gesellschaft herum. Aber wissen Sie was? Genau das macht Sie interessant, denn ich mag keine Ladys – besondere keine englischen.«
»Sie ... Sie ... unverschämter Kerl!«
Alan McLaud lachte laut.
»Ich warte noch immer auf den Besuch Ihres angeblichen Mannes. Oder sollte er etwa ein Feigling sein?« In gespielter Verwunderung schlug er sich gegen die Stirn. »Aber natürlich ist er ein Feigling! Er ist schließlich Engländer! Die sind doch nur stark, wenn die gesamte Armee hinter ihnen steht.«
Maureen wollte sich auf keinen Fall zu einer Erwiderung hinreißen lassen, die eine weitere Beleidung nach sich ziehen würde. Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte auf die Brücke zu, die zur Neustadt führte. Durch den Nebel hallte ihr noch lange das laute, spöttische Lachen von Alan McLaud nach.
Die nächsten zwei Wochen, in denen Philipp die Vorbereitungen für ihre Abreise tätigte, verflogen schnell. Ihrem Mann und Frederica hatte Maureen weder von den verletzenden Worten ihrer Mutter, noch von der Gefahr, in die sie geraten war, und von der Begegnung mit Alan McLaud erzählt. In zwei Tagen würde sie Edinburgh verlassen und weder Laura noch diesen unverschämten Schotten jemals wiedersehen.
Vier Tage war Maureen nicht zu ihrer Mutter gegangen. Zusammen mit Frederica hatte sie Einkäufe gemacht und die Baines besucht, die zeitgleich mit ihnen die Stadt verlassen würden. Maureen rang mit ihrem Pflichtgefühl gegenüber ihrer Mutter und der bitteren Erkenntnis, dass Laura keinen Wert auf ihre Anwesenheit legte. Schließlich zog es sie aber doch wieder in das kleine Zimmer über der schäbigen Schenke. Es war mehr als nur Pflichtbewusstsein, sie spürte, dass Laura ihr noch nicht alles erzählt hatte. Es musste etwas geschehen sein, das Laura zu dieser harten, verbitterten Frau gemacht hatte.
Frederica freute sich, das Weihnachtfest zu Hause zu verbringen.
»Wir feiern doch wie jedes Jahr zusammen mit den Linnleys, nicht wahr?«, fragte sie voller Hoffnung.
Maureen wusste, welche Gedanken Frederica beschäftigen: Das Mädchen spekulierte darauf, am Weihnachtstag von George Linnley endlich den ersehnten Heiratsantrag zu erhalten. Während ihres Aufenthaltes in Edinburgh hatte Frederica mehrere Briefe an George geschrieben, obwohl das eine Dame eigentlich nicht tun sollte. Die Tatsache, dass George ihr nie geantwortet hatte, schien sie ebenso zu verdrängen, wie dass Lady Esther eine Verbindung mit einer entfernten Verwandten wünschte.
Maureen war wenig erpicht darauf, in Bälde sich wieder mit dieser unseligen Angelegenheit auseinandersetzen zu müssen. Ihre Hoffnung, Frederica würde während der Reise George Linnley vergessen, hatte sich leider nicht bewahrheitet.
Mit dem Anwalt, der sich um die Überführung und Beerdigung von Lauras Leichnam kümmern würde, war alles geregelt. Einen Tag vor ihrer Abreise ging Maureen das letzte Mal zu ihrer Mutter. Das Wetter zeigte sich von seiner besten Seite und die Sonne stand am wolkenlosen Himmel, aber der vom Meer kommende Wind war eiskalt und ein Vorbote des kommenden Winters. Die trockene Luft linderte Lauras Beschwerden. Sie hatte rote Wangen, und ihre Augen waren klar und nicht länger von dunklen Schatten umrandet. Je näher der Abschied rückte, desto entsetzlicher fühlte Maureen sich dennoch. Sie ließ ihre todkranke Mutter zurück, die sie nie mehr wiedersehen würde. Diese Gewissheit nagte während der letzten Tage an Maureen, und es gelang ihr nicht, das schlechte Gewissen zu verdrängen. Laura weigerte sich weiterhin, ihre ärmliche Behausung zu verlassen. Sie wollte auch auf keinen Fall die Hilfe einer Pflegerin annehmen, was Maureen zusätzlich Sorge bereitete, sie hatte aber aufgegeben, Laura zu überzeugen – es wäre zwecklos gewesen.
Da sie sich heute wohl fühlte, bat Laura Maureen, sie zum Friedhof zu begleiten. Stumm nahm Maureen am Grab ihres Vaters Abschied, und der Gedanke, das Grab ihrer Mutter niemals zu sehen, stimmte sie traurig. Es war aber unwahrscheinlich, dass sie jemals wieder nach Schottland zurückkehren würde.
»Der Tod ist nur der Anfang von etwas Anderem, etwas viel Größerem. Wir Lebenden können das nur nicht begreifen.«
Erstaunt sah Maureen ihre Mutter an. Instinktiv hatte Laura im richtigen Moment die richtigen Worte gewählt. Maureen fühlte sich sofort etwas getröstet.
»Lass uns gehen«, bat Laura und hakte sich bei Maureen unter.
Der steile Anstieg zum West Bow ging doch über Lauras Kräfte. Sie hustete, erbleichte, und der Atem drang rasselnd aus ihrer Kehle.
»Schaffst du es, Mutter?«, fragte Maureen besorgt. »Vielleicht sollte ich Hilfe …«
»Nein, nein, es geht schon«, wehrte Laura ab. »Wenn ich mich nur auf dich stützen darf.«
Keuchend und hustend schleppte Laura sich immer nur wenige Schritte weiter, dann musste sie stehen bleiben und so hektisch nach Luft schnappen, dass Maureen Angst bekam. Sie stützte Laura und überlegte, wo sie wohl Hilfe holen konnte, denn sie würden es unmöglich allein schaffen bis zu der Schenke. Als sie sich umsah, bemerkte sie vier englische Offiziere, die sich ihnen näherten. Sie trugen die auffälligen, roten Uniformen und wurden von zwei Damen begleitet, die diese Bezeichnung