Im Schatten der Vergeltung. Rebecca Michéle
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Читать онлайн книгу Im Schatten der Vergeltung - Rebecca Michéle страница 21
»Findest du nicht, dass ich ein Recht darauf habe, zu erfahren, was für Menschen meine Großeltern waren, und warum du mir niemals von ihnen erzählt hast? Warum hast du Bothy Castle verlassen und ein Leben gelebt, dass deiner nicht würdig war?«
»Das geht dich nichts an!«, rief Laura. Sie wirkte plötzlich sehr stark, als würde diese Sache alle ihre Kräfte mobilisieren. Im Dämmerlicht des trüben Nachmittags funkelten Lauras Augen wie zwei glühende Kohlen. »Ich kann mich nicht erinnern, dich gebeten zu haben, nach Schottland zu kommen und dich in mein Leben einzumischen! Ach, hätte ich diesen Brief doch niemals geschrieben! Hätte ich nie wieder Kontakt zu dir aufgenommen. Weißt du was, Tochter? Vergiss die ganze Sache! Man soll meine Überreste einfach auf irgendeinem Friedhof verscharren. Was kümmert es mich, wo mein Leib vermodert!«
»Mutter!« Maureen musste sich beherrschen, um Laura nicht anzuschreien, denn auch ihre Geduld hatte Grenzen. »Selbstverständlich werden Philipp und ich dafür sorgen, dass du in deiner Heimat begraben wirst.« Sie sah Laura eindringlich an, die mit verstockter Miene vor sich hin starrte. »Also gut, wenn du mir nichts über McCorkindale sagen willst – was ist mit deiner Mutter? Ist sie der Grund, warum du so hart geworden bist?«
»Du bist ungerecht!«, schleuderte ihr Laura entgegen. »Ich habe stets meine Pflichten als Mutter dir gegenüber erfüllt. Oder hast du jemals hungern müssen? John und ich haben hart gearbeitet, damit es dir gut geht.«
Mit einem Ruck schob Maureen ihren Stuhl nach hinten, dass die Beine über die Dielen kratzten, stand auf und ging zum Fenster. Sie war mit ihrem Latein am Ende und kurz davor zu resignieren. Ohne sich umzudrehen, sagte sie leise: »Es ging mir wohl besser als vielen anderen Kindern in dieser Zeit. Wir hatten immer genügend zu essen, und ich durfte an den Unterrichtsstunden im Herrenhaus teilnehmen, aber oft habe ich mir gewünscht, statt eines Tellers Haferbrei eine Umarmung von dir zu bekommen. Dafür wäre ich liebend gern hungrig zu Bett gegangen.«
»Das sagt du nur, weil du nie erfahren hast, was Hunger wirklich bedeutet.«
»Ich will nicht behaupten, dass du dich nicht bemüht hast«, fuhr Maureen fort und sah weiter in den dichten Nebel, der die Royal Mile in ein diffuses Licht tauchte. »Durch Frederica weiß ich aber, was es bedeutet, sein Kind über alles zu lieben und sich in jeder Sekunde um sein Wohlergehen zu sorgen. Es zerreißt mir beinahe das Herz, wenn Frederica krank ist oder Kummer hat. Mein ganzes Denken und Bestreben ist einzig und allein darauf ausgerichtet, meine Tochter vor jeglichen Gefahren und Leid dieser Welt zu beschützen. Das sind Gefühle, die du mir gegenüber niemals gezeigt hast. Vergessen wir jedoch diese Zeit. Das Einzige, was ich heute von dir möchte, ist, zu erfahren, wo ich herkomme.« Sie drehte sich um und ließ Laura nicht aus den Augen. »Jeder Mensch ist ein Zweig eines großen Familienbaumes, und wenn man weiß, wo seine Wurzeln liegen, weiß man, wer man selbst ist. Kannst du das denn nicht verstehen?«
»Nein, und ich möchte es auch nicht verstehen. Manchmal ist es besser, seine Abstammung zu vergessen, sie vollständig aus dem Gedächtnis zu tilgen, wenn die Erinnerung daran von großem Leid geprägt ist.« Müde strich sich Laura eine Haarsträhne aus dem Gesicht und erwiderte provozierend Maureens Blick. »Was willst du eigentlich hören? Dass McCorkindale ein reicher und mächtiger Clanchef war? Tja, vor der Schlacht von Culloden traf das zu. Wenn du jedoch hören willst, dass er ein zärtlicher Ehemann und liebevoller Vater, gerecht und großzügig gegenüber seinen Dienstboten, gewesen war, so muss ich dich enttäuschen. McCorkindale war ein Tyrann! Der einzige Mensch, auf den er sich jemals verließ, war er selbst. Für ihn zählte nur eine Meinung – seine eigene! Er war selbstherrlich und hochmütig. Und er war brutal. Besonders, wenn er dem Bier oder dem Whisky zugesprochen hatte. Da er täglich trank, waren seine Frau und ich vor seinen Wutausbrüchen und Schlägen niemals sicher. Wenn er betrunken war, konnte niemand ihm etwas recht machen. Wegen einer harmlosen Fliege an der Wand schlug er mit seinem Schwert die gesamte Einrichtung kurz und klein. Einmal hackte er einem Jungen, kaum älter als zehn Jahre, die Hand ab, als dieser in der Halle stolperte und ihm Rotwein über sein Wams schüttete.« Laura machte eine kurze Pause und trat zu Maureen. Leicht legte sie ihr die Hand auf die Schulter. »War es das, was du hören wolltest? Bestimmt nicht, es ist aber die Wahrheit. Nein, eigentlich ist es nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Glaub mir, es ist besser, wenn du den Rest nie erfährst.«
Maureen schluckte trocken, die Zunge klebte ihr am Gaumen.
»Du sprichst von ihm, als wäre er tot. Philipps Recherchen haben ergeben, dass Archibald McCorkindale noch lebt.«
»Für mich ist er tot, gestorben vor vielen, vielen Jahren. Was dich angeht, Maureen: Ich wollte dich nie bekommen, ich konnte es aber nicht ändern. Ich habe meine Pflicht getan, habe dich ausgetragen und dich nicht ausgesetzt oder in einem Fluss ertränkt, was ich eigentlich vorgehabt hatte. Selbst während der Geburt betete ich dafür, dieses unerwünschte Balg in meinem Bauch würde keinen Atemzug machen, wenn es auf die Welt kam. Nun, es war nicht Gottes Wille, und so wurde ich Mutter, ob ich wollte oder nicht.«
Maureens Magen krampfte sich vor Übelkeit zusammen, ein stechender Schmerz ließ sie nach Luft schnappen.
»Ich war dir immer eine Last.«
Sie war verwundert, wie ruhig ihre Stimme in dieser Situation klang. All das, was Maureen ihr Leben lang gespürt hatte, hatte Laura mit wenigen und brutal offenen Worten bestätigt.
»Das kann ich nicht leugnen.« Laura sprach ruhig, es schien, es wäre sie erleichtert, sich endlich nicht mehr verstellen zu müssen. »Das ganze Leben war eine einzige Last, und die Gewissheit, dass es bald zu Ende sein wird, hat für mich nichts Erschreckendes. Ich bin alt und krank. Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe? Ich will dich auch heute nicht, so wie ich dich nie gewollt habe.«
Später wusste Maureen nicht mehr, wie sie nach draußen gelangt war. Erst als sie sich an die feuchte Hauswand lehnte und die Nässe durch ihre Kleidung hindurch an ihrem Rücken spürte, begann sie zu zittern. Maureen würgte, doch kein Schluchzen drang aus ihrer Kehle. Sie war wie erstarrt. Nimm dich zusammen!, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Du hast es immer geahnt. Trotzdem überkam Maureen ein Gefühl, als würde ihr das Herz mit glühenden Zangen aus der Brust gerissen. Ihre eigene Mutter hatte ihren Tod gewünscht! Sie zögerte, ob sie zu Laura zurückkehren und ihren Mantel holen sollte, denn der feuchte Nebel hatte ihr dünnes Kleid inzwischen durchnässt, und sie fror entsetzlich. Aber sie hatte jetzt nicht mehr die Kraft, Laura erneut gegenüberzutreten.
Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen und ging die Royal Mile in Richtung Holyrood hinunter. Sie brauchte frische Luft und wollte zu Fuß gehen, die Enge einer Kutsche hätte sie jetzt nicht ertragen. Der Nebel war so dicht, dass sie kaum die Hand vor Augen erkennen konnte, und ihre Schritte auf dem Pflaster schienen von der wabernden grauen Masse geschluckt zu werden. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Sie hatte eine Tür geöffnet, die jahrelang verschlossen gewesen war, und hatte den Vorraum zur Hölle betreten. Trotzdem bedauerte sie es nicht, endlich die Wahrheit zu wissen. Nun wusste sie Bescheid, mochte es auch noch so schmerzhaft sein. Nun konnte sie mit ihrer Familie nach Cornwall zurückkehren – ihrer Mutter war sie nichts mehr schuldig.
An einer Ecke der High Street tauchten plötzlich zwei Männer neben ihr auf. Einer umklammerte sie von hinten so fest, dass Maureen fast keine Luft mehr bekannt, während der andere mit einer Hand ihr Kinn hob und sie abschätzend betrachtete. Sein Atem stank nach Fäulnis und Bier.
»Na, Süße, so allein unterwegs? Haste Lust auf uns zwei?«
»Lassen Sie mich sofort los!«
Mit aller Kraft trat Maureen um sich, und der Mann, der sie umklammert hielt, schrie auf. Offenbar war ihr Tritt