Das Geheimnis der Madame Yin. Nathan Winters

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Das Geheimnis der Madame Yin - Nathan Winters

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lassen Sie mich gehen. Was wollen Sie denn vor mir? Lassen Sie mich doch bitte gehen!“

      Er schwieg.

      „Warum tun Sie das?“

      „Weil es nötig ist.“

      Sie zuckte zusammen.

      Ihr Peiniger hatte sich neben sie gekniet, sein Mund war nun ganz dicht an ihrem Ohr. Sie konnte seinen Atem riechen. Nun drehte er den Docht der Lampe hoch und ihre Augen waren für einen kurzen Augenblick von der plötzlichen Helligkeit geblendet. „Sieh dorthin“, sagte er nach einer kurzen Weile, streckte den Finger aus und zeigte an ihr vorbei auf die Wand gegenüber.

      Sie drehte den Kopf zur Seite. Panisch biss sie sich auf die Lippen. Sie wollte nicht hinsehen, egal was dort war, aber er packte sie grob bei den Haaren und zwang sie dazu.

      Ihre Augen weiteten sich. „Oh Gott, nein. Bitte. Bitte.“ Sie wollte schreien, ihre Panik, das Grauen, alles herausschreien. Doch sie krächzte nur, während ihre Augen das Entsetzliche nicht wahrhaben wollten. Aber sie konnte den Blick nicht abwenden. Ihr Magen rebellierte, verdrehte sich und ein galliger Geschmack schoss in ihren Mund. Sie würgte die letzte Mahlzeit hoch. Tomatensuppe und Apfelkuchen. Es sah aus, als würde sie klumpiges Blut spucken.

      Ihren Peiniger kümmerte es nicht. Ungerührt sah er ihr zu und wischte ihr mit dem Finger über den Mund, während sein Atem über ihre nassgeweinten Wangen streichelte. „Weißt du jetzt, warum du sterben musst?“

      „Bitte … tun Sie es nicht. Bitte.“

      Er zögerte. Sah sie Mitleid in seinen Augen?

       26. August 1877 Chicago Einen Monat später

      Der Tag war sonnig und der Himmel strahlend blau. Aber für Celeste Summersteens Geschmack war es viel zu heiß. Sie schwitzte in ihrem Kleid aus dunkelblauer Seide und Taft. Ihre Spitzenhandschuhe juckten fürchterlich. Am liebsten hätte sie diesen unnötigen Tand aus dem Fenster der Kutsche geworfen und den Unterrock, der nass an ihren Beinen klebte, gleich hinterher.

      Sie fuhren durch ein steinernes Tor und folgten einer schnurgeraden Allee zum Anwesen der Familie Roover.

      „Schneller!“, rief sie.

      „Soll ich uns umbringen?“, antwortete der Kutscher gereizt, ließ aber trotzdem die Peitsche knallen.

      Celeste war wütend, doch nicht auf den Kutscher. Vielmehr waren es ihr Vorgesetzter und dieser grinsende Idiot Walters, die sie zur Weißglut getrieben hatten.

      Walters hatte sie schon eine Lektion erteilt, ihr Vorgesetzter würde eine härtere Nuss werden. Schließlich war der nicht irgendwer, sondern Allan Pinkerton, der Gründer der berühmten Detektei Pinkerton. Seinen Männern sagte man nach, bei der Wahl ihrer Mittel nicht zimperlich zu sein. Viele hielten sie sogar für schießwütige Revolverhelden. Aber der Erfolg, wenn auch in manchen Fällen fragwürdig erworben, gab ihnen recht.

      Über Pinkerton selbst kursierte das Gerücht, dass selbst die hartgesottensten Verbrecher anfingen zu weinen, wenn sie ihn sahen. Sie hatte keine Ahnung, ob das stimmte, aber es schreckte Celeste auch nicht länger, es herauszufinden. Für Pinkerton war sie eine Last und er gab ihr nichts anderes zu tun, als Akten zu sortieren und Briefe zu schreiben. Bisher hatte sie das stumm und geduldig ertragen und gehofft, dass sich irgendwann etwas ändern würde. Aber jetzt hatte sie erkennen müssen, dass das niemals geschehen würde.

      Zwischen den Bäumen tauchte ein herrschaftliches Gebäude auf. In den hohen Fenstern spiegelte sich das Sonnenlicht und drei spitze Türmchen reckten ihre Dächer in den klaren Himmel. Es war der Stammsitz des Handelshauses Roover, einer der reichsten Familien Chicagos.

      Das Pferd wieherte, Hufe stampften, die Räder blockierten und wirbelten Steinchen und Staub auf, als der Kutscher sein Gefährt zum Halten brachte. Es war ein dramatischer Auftritt, ganz im Sinne von Celeste, der es gefiel, wenn man sich den Hals nach ihr verdrehte.

      So wartete sie auch nicht ab, bis jemand kam, um ihr beim Aussteigen zu helfen.

      Ein Mann im schwarzen Gehrock stürmte aus dem Haus und die breite Treppe hinunter. Auf halbem Weg erkannte er sie. Seine angespannte Miene löste sich in einem höflichen Lächeln auf. Es war Mrs. Roovers Sekretär.

      „Miss Summersteen.“ Er klang überrascht und warf einen hastigen Blick auf seine goldene Taschenuhr. „Wie schön, dass Sie doch noch kommen konnten. Mr. Pinkerton teilte uns mit, Sie seien verhindert.“

      „Ja, das hätte er wohl gern“, presste sie hervor.

      „Bitte?“

      „Nichts. Sagen Sie, wo finde ich Mrs. Roover?“

      „Wenn Sie mir bitte folgen wollen, ich bringe Sie zu ihr.“

      Der Sekretär ging voran zur Rückseite des Anwesens. Dort befand sich ein kleiner See, in dessen Mitte eine Insel lag. Der Weg führte über einen kleinen Steg auf die Insel und geradewegs auf einen weißen Pavillon zu, in dessen Schatten ein runder Eichentisch stand.

      Zwei Personen saßen an diesem Tisch. Der Wind trieb das Klirren von kristallenen Gläsern über das Wasser.

      Als Celeste sich näherte und Pinkerton sie erkannte, konnte sie sehen, wie sein rundes Gesicht mit dem sauber gestutzten Backenbart rot anlief. Ruckartig stand er auf. „Was machen Sie denn hier?“, schnaubte er ungehalten.

      Sie ignorierte ihn und knickste stattdessen vor der alten Dame. „Bitte verzeihen Sie die Verspätung. Mr. Walters hatte es versäumt, mich in Kenntnis zu setzen.“

      Sie musste an Walters mieses Grinsen denken, als er ihr erzählt hatte, dass Pinkerton anstatt ihrer zu dem Treffen gefahren war.

      „Miss Summersteen! Sie missachten meine Befehle. Ich habe Ihnen eine andere Aufgabe zugewiesen.“ Pinkerton war sehr darum bemüht, die Fassung zu wahren.

      „Ich weiß und trotzdem bin ich hier.“ Sie hielt seinem Blick stand und fühlte eher Wut denn Angst. Zum Weinen war ihr auch nicht zumute – also waren die Gerüchte doch übertrieben. Aus ihrer Handtasche holte sie einen Schlüssel, den sie vor Pinkerton auf den Tisch legte. Er sah sie irritiert an.

      „Der Schlüssel zum Aktenraum. Was soll ich damit?“

      „Walters wollte mich nicht gehen lassen, also hab ich ihn eingesperrt.“

      „Sie … So etwas ist mir ja noch nie untergekommen. Was fällt Ihnen ein? Sie sind entlassen!“, polterte Pinkerton los.

      Celeste kniff die Augen zusammen. „Und wenn schon. Akten kann ich überall sortieren!“

      Ein herzliches Lachen unterbrach den Streit. Mrs. Roover amüsierte sich köstlich. „Ich weiß schon, warum ich nur Sie haben wollte, meine liebe Celeste. Bitte, setzen Sie sich doch.“

      „Ich soll dieses Verhalten tolerieren?“ Noch immer ähnelte die Farbe von Pinkertons Gesicht der eines heißgekochten Hummers.

      „Ja, aus einem ganz einfachen Grund. Sie wollten mir Miss Summersteen vorenthalten. Obwohl ich ausdrücklich um ihre Anwesenheit gebeten hatte.“

      „Aber,

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