Das Geheimnis der Madame Yin. Nathan Winters

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Das Geheimnis der Madame Yin - Nathan Winters

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Die Dunkelheit hatte schon vor Stunden einen trüben Tag abgelöst.

      In einer schmalen Gasse, in der sich Abfall stapelte, balgten sich ein paar Ratten um die Kadaver zweier Katzen, denen irgendjemand das Fell abgezogen hatte.

      Im verwahrlosten Hinterhof eines Gerbers bellte ein Hund.

      All das kümmerte Madame Yin nicht, die, wie jeden Tag, den gleichen Weg ging.

      Obwohl sie schon seit über zwanzig Jahren in London lebte, kannte niemand ihren richtigen Namen, und ebenso rätselhaft wie ihr Name war auch ihre Herkunft. Ihre mandelförmigen Augen ließen keinen Zweifel daran, dass sie aus Asien stammte, doch sie sprach ein so gutes Englisch, dass viele vermuteten, sie lebte schon immer hier. Die Jahre auf der Straße, die langen Nächte und vielen Liebhaber hatten Spuren auf ihrem einst zarten Gesicht hinterlassen. Ihre Lippen waren schmal, aber auffallend rot geschminkt. Tiefe Falten zeichneten ihr Gesicht von der Nase bis hinunter zu den Mundwinkeln. Ihre Haut wirkte blass, im Licht der matten Gaslaternen sogar kränklich gelb. Sie humpelte – ein Überbleibsel aus der Zeit, als sie noch als einfache Straßenhure ihren Lebensunterhalt verdienen musste und ein Freier sie fast totgeprügelt hatte.

      Die Straße war ihr Lehrmeister gewesen. Erwarte nichts und erhoffe nichts, niemand wird dir etwas schenken. Du musst es dir selbst nehmen. Nach diesem Credo lebte sie, und nach diesem Credo handelte sie. Und nun gehörten ihr drei Opiumhöhlen und zwei Bordelle, was ihr ein beträchtliches Einkommen einbrachte, sowie den Respekt der Männer und Frauen, die ihr Geld ebenfalls im Schatten verdienten.

      Ihre Häuser liefen so gut, dass sie sich die edelsten Kleider hätte leisten können, aber darauf verzichtete sie ebenso wie auf einen Leibwächter oder auf eine Kutsche, die sie trocken durch den Regen gebracht hätte. Um ihre Etablissements zu besuchen und nach dem Rechten zu sehen, ging sie, wie früher, zu Fuß. Nur einen Schirm gegen den Regen und einen Stock als Gehhilfe gestattete sie sich als Luxus, denn neben ihrem lahmen Bein bereitete ihr bei nassem Wetter auch ihr Rücken Kummer. Sie bog gerade in die Newcomen Street ein, als der Regen nachließ. Die Luft roch frisch und klar, der Regen hatte seinen Dienst getan und den fauligen Gestank nach Armut und Hoffnungslosigkeit fortgewaschen. Madame Yin blieb einen Moment lang stehen und nahm einen tiefen Atemzug. Sie konnte ihr Zuhause schon am Ende der Straße sehen. Die obere Etage lag im Dunkeln, dort wohnte sie. Aus der unteren Etage, über deren Eingang ein roter Holzdrache hing und wo tiefrote Lichter in den Fenstern brannten, konnte sie leises Flötenspiel und Lachen hören.

      Sie hatte also noch Gäste, wie sie ihre opiumsüchtige Kundschaft gerne nannte. Dabei machte sie keinen Unterschied, ob jemand von hohem Stand war oder tagsüber in den Werften schuftete. Ob Mann, ob Frau, alt oder jung – Hauptsache, sie konnten die drei Schillinge aufbringen, die sie für die Jagd nach dem Drachen bezahlen mussten.

      Aus dem Schatten trat eine Gestalt an sie heran, die einen Strauß Blumen in der Hand hielt. Es war ein Mann mit Mantel und Zylinder.

      „Verzeihen Sie. Madame Yin?“, fragte er mit sanfter Stimme.

      Sie nickte höflich. „Kann ich etwas für Sie tun, mein Freund?“

      Er sagte nichts, sondern reichte ihr lediglich mit gesenktem Kopf die Blumen. Es waren rote Rosen. Madame Yin nahm sie und roch daran. „Das ist aber reizend von Ihnen“, sagte sie und schenkte ihm ein seltenes Lächeln. „Haben Sie vielen Dank. Möchten Sie mich ein Stück begleiten?“

      Er hob den Kopf. Seine Augen funkelten. „Nein, Madame. Das möchte ich nicht.“ Unvermittelt stürzte sich der Mann auf sie.

      Der Blumenstrauß fiel zu Boden. Er zertrat ihn.

      Rosenblätter rissen ab und schwammen den Rinnstein entlang, tanzten und drehten sich auf dem Wasser. Ein Reigen, den auch Madame Yin tanzte. Sie wand sich, kämpfte, wollte fliehen, um Hilfe schreien, aber er hielt sie am Hals gepackt, drückte zu und presste ihr ein Tuch auf Mund und Nase. Sie roch und schmeckte Alkohol. Ihr wurde schwindelig. Ihre Gegenwehr erlahmte. Dann wurde es dunkel.

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       7. September 1877 Die Themse Früher Morgen

      Die Princess of the Thames war ein altersschwacher, rostiger Kahn, der nach Öl, Kohle, Ruß und Müll stank. Tuckernd spie der Motor schwarze Rauchwolken in den Himmel. Ein Geruch, der auch den beiden Männern anhaftete, die auf der Princess ihre Arbeit taten.

      Sie waren Watermen und fischten den Müll aus der Themse, den andere hinein warfen. Ihre Aufgabe nahmen sie mit Humor und einer Flasche Gin, die sie schon zur Hälfte geleert hatten. Dabei hatte Big Ben erst neun Mal geschlagen. Die reich geschmückte Fassade des Parlaments erhob sich links von ihnen, aus einem Schleier von Rauch und Nebel.

      Der Jüngere der beiden wischte sich mit dem dreckstarrenden Ärmel über die Nase, während er mit der Hakenstange nach einem Leinensack stocherte, der Steuerbord am Boot vorbei trieb.

      Er hoffte auf einen guten Fang. Hin und wieder fanden sie tatsächlich etwas, das sich zu Geld machen ließ.

      „Bei den dick'n Titten meiner Schwesser. Das sieht mir nach 'nem guten Fang aus!“, rief der Mann seinem Kameraden zu, der am Ruder stand und das Boot ruhig im Wasser hielt. Der streckte den Hals und grinste dreckig. „Deine Schwester hat sogar verdammt dicke Titten, und weich sind die auch noch.“

      Der andere winkte ab, aber der Mann am Ruder war noch nicht fertig. „Hey, Potts. Egal, was es is'. Wir machen halbe-halbe. Is' klar, nich'?“

      „Ja is' klar, Dorsey, sicher. Verflixt un' Teufelsauge, verdammtes … Dreck …“ Ihm rutschte der Sack nun schon zum zweiten Mal vom Haken. Erst beim dritten Mal schaffte er es, den schweren Leinensack aus dem Wasser zu ziehen.

      „Der is' verflucht drecksschwer. Dors! Wenn du artig bis', geb' ich heut' einen aus!“

      Sein schwerfälliger Geist gaukelte Potts alle möglichen Kostbarkeiten vor, die sich gleich auf Deck ergießen würden. Mit seinem Messer schlitzte er den Sack auf und kippte ihn aus. „Verfluchte Scheiße“, schrie er auf und prallte zurück. Träume von reicher Beute zerplatzten wie Seifenblasen.

      Was da nass, aufgequollen und von Maden zerfressen vor ihm lag, war … Potts wandte sich ab, ehe er Genaueres erkennen konnte. „Dreck, Dreck, Dreck!“

      „Was is'n? Machst'n für'n Geschrei?“ Dorsey kam um die Kajüte herum. Die Princess schaukelte nur noch träge auf den Wellen.

      Er stieß mit Potts zusammen und beide setzten sich auf den Hosenboden.

      „Da, da …“ , stammelte Potts kreideweiß.

      „Du dämlicher Bastard“, fuhr er ihn an. „Das is' nur 'n verreckter Hund.“

      „Echt?“

      „Klar, was has'n du geglaubt?“

      Potts druckste herum.

      „Etwa'n Krepierten? Is' doch viel zu klein. Ney, ney. Da scheißt du dir in die Hose. Hab' schon welche gefunden. Total aufgeduns'n. Das Maul aufgeriss'n. Ich sag dir, die Seelen von denen, die sin' immer noch hier. Geh'n nich' weg. Manche machen auch Geräusche. Roorgs. Aaach“, machte Dorsey und sein Kumpel schlug ihm gegen die Schulter.

      „Blöder Scheißer.“

      Dorsey

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