Das Geheimnis der Madame Yin. Nathan Winters
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„So gerne ich Ihnen helfen würde, aber Sie hatten Pech und Scotland Yard übernimmt nicht die Haftung für entstandene Schäden, noch für ihren entgangenen Lohn.“
„Zum Teufel“, kam es Dorsey in ehrlicher Wut über die Lippen, was ihm sofort leidtat. „Tschuldigung“, beeilte er sich zu sagen. „Is' nur so, dass wir dann heute Abend nix zu beißen ham. Und wenn die Princess nich' fahren kann, verdien' wir auch nix. Ich hab vier Mäuler zu stopfen.“
Für DeFries war das Gespräch beendet. Er nickte knapp und schloss sich Aeglewood an.
Edwards hingegen nahm drei Schillinge aus seiner Geldbörse und steckte sie den Männern zu.
„Wenn ihr noch was habt, was ich wissen müsste, fragt bei Scotland Yard nach Robert Edwards. Verstanden?“
„Ja, Sör. Vielen Dank. Sie sin' ehrvoller Kerl, ja wirklich, dass sin' Se .“
„Euch noch einen guten Tag.“
Als Edwards zu DeFries in die Kutsche stieg, erwartete der ihn mit einem väterlich tadelnden Blick, den er bereits zur Genüge kannte.
„Zurück zum Yard“, sagte DeFries und klopfte an die Decke der Hansom-Kutsche.
Der Fahrer schnalzte mit der Zunge. Das Pferd schnaubte und sie fuhren los.
„Sie sollten nicht so freigiebig sein, Robert. Wenn Sie auf jede traurige Geschichte reinfallen, sind Sie bald arm wie eine Kirchenmaus.“
„Ja, ja, ich weiß.“ DeFries konnte ihn nicht verstehen. Er musste das tun. Er hatte Glück gehabt. Vom Gossenkind zum Polizisten. Er musste nicht hungern und auf der Straße schlafen musste er auch nicht mehr. Es lief gut für ihn. Zu gut? Wie schnell konnte er wieder in der Gosse landen? Ein einziger Fehler genügte. Ein falsches Wort an der falschen Stelle. Menschen wie Dorsey und Potts erinnerten ihn daran, dass es schneller bergab als bergauf ging. Nachdenklich strich er sich über seinen Schnurrbart.
„Woran denken Sie, Robert?“
Edwards zuckte zusammen, als hätte DeFries ihn mit einer Nadel gestochen. „An nichts wirklich Bestimmtes.“
„Sie sind ein schlechter Lügner, Robert. Ich sehe immer, wenn Sie etwas beschäftigt. Sie tragen Ihre Stärken und Schwächen offen mit sich herum. Eine erfrischende Eigenschaft, aber … riskant. Besonders in unserem Beruf. Es macht Sie angreifbar. Seien Sie also auf der Hut.“
„Ich werd's nicht vergessen.“
DeFries sah ihn schräg an. „Sie vergessen meine Ermahnungen doch ständig.“
Edwards schwieg.
Eine halbe Stunde später erreichte ihre Kutsche Whitehall Place Nr. 4.
Sie fuhren durch ein Tor, das sie in einen Innenhof brachte. Dort lag der Eingang zum Gebäude von Scotland Yard. Die Mauern bestanden aus rotem Backstein. Auf den Fensterscheiben spiegelten sich die vorbeiziehenden Wolken und die beiden Straßenlaternen, die den kurzen Weg zum Eingang flankierten. Auf dem Platz, vor dem Gebäude, stand eine Black Maria. Vor der schweren Gefangenenkutsche waren zwei schwarze Friesen angespannt, die unruhig mit den Hufen scharrten. Ein paar Bobbys unterhielten sich mit dem Kutscher und rauchten.
Die Hansom hielt vor dem Eingang. Edwards und DeFries stiegen aus und verabschiedeten sich voneinander. Edwards ging in sein Büro. Dort machte er sich einen Tee, schrieb Notizen zu Madame Yin, betrachtete mehrfach den Kamm aus Schildpatt, die Haarlocke, das Stück Stoff mit dem Rosenmuster und wartete während dieser Zeit auf Kippwells Akten.
Er wartete geduldig bis in den späten Nachmittag hinein. Dann allerdings platzte ihm der Kragen.
Southampton Am Nachmittag
Die M. S. Cumberland hatte vor einer Stunde im Hafen von Southampton angelegt. Tiefgraue Wolken zogen über sie in Richtung Küste hinweg. Ein kühler Wind ließ den Union Jack flattern, der an einem Fahnenmast über der Hafenanlage hing. Die Luft roch nass und salzig nach den Wellen, die gluckernd in den Hafen rollten. Eine Dame im Pelzmantel befand näselnd, dass es für die Jahreszeit zu kühl und zu nass war. Neben ihr hatten sich nur wenige Passagiere an Deck eingefunden, um den Wartenden am Pier zuzuwinken.
Celeste und Dorothea gehörten zu diesen wenigen. Sie standen nebeneinander an der Reling und sahen zu, wie die Hafenarbeiter johlend und fluchend die Aufgänge an der Cumberland befestigten.
„Werden uns deine Eltern abholen kommen?“, fragte Celeste.
„Vater wird sicher keine Zeit haben und Mutter ist zu krank. Er wird einen Diener schicken, wie üblich.“
„Bist du denn gar nicht froh, nach Hause zu kommen? Du warst die ganze Überfahrt so still.“
Dorothea schüttelte den Kopf, sodass ihr die blonden Locken ins Gesicht fielen. „Ich wäre lieber bei Tante Anette geblieben. Bei ihr habe ich mich wohlgefühlt.“ Sie sah hilfesuchend zu Celeste, die sich des Gefühls nicht erwehren konnte, dass das Mädchen etwas sagen wollte, es aber nicht herausbrachte.
Plötzlich nahm Dorothea ihre Hand und drückte sie. „Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie bei mir sind.“
Celeste antwortete nicht, stattdessen legte sie ihre andere Hand über die des Mädchens.
Das Nebelhorn der Cumberland erschallte und mit einem Mal schien es, als hätten die Kabinen, Salons, Restaurants, Cafés und Aufenthaltsräume ihre Besucher auf einen Schlag freigegeben. Die Luft vibrierte vom Klappern unzähliger Schuhe auf den polierten Decks, vom Lärm hunderter Stimmen, die mal laut, mal leise durcheinander plapperten. Das gestochene Oxford-Englisch mischte sich mit dem geschwungenen Akzent aus Cornwall und dem gerollten „R“ eines Schotten aus Glasgow. Dazwischen hörte man Fetzen von Italienisch und Französisch. Ein Paar sprach sogar Deutsch.
Noch war etwas Zeit und Celeste nutzte den Augenblick, um Dorotheas Gesicht zu studieren. Ihre Haut war blass und wirkte kränklich. Die dunklen Ringe unter ihren Augen verrieten den Mangel an Schlaf. Seit sie New York verlassen hatten, litt Dorothea unter Albträumen. Nacht für Nacht war Celeste zu ihr geschlichen, hatte ihr über das Haar gestrichen und ihre Hand gehalten, bis die Dämonen der Nacht wieder ins Dunkel zurückgekrochen waren.
„Ich will nicht zurück nach London. Ich hasse diese Stadt. Warum kann Vater mich nicht in Frieden lassen?“
Celeste verstärkte den Druck auf Dorotheas Hand. „Ich nehme an, deine Eltern haben Sehnsucht nach dir.“
„Sie kennen Vater nicht. Er ist kein Mensch, der Sehnsucht nach etwas … oder jemandem hat. Wenn er etwas tut, gibt es dafür immer einen guten Grund.“
„Und was ist mit deiner Mutter?“
Bei der Erwähnung ihrer Mutter schwand die Härte aus Dorotheas Augen. „Oh doch. Sie freut sich ganz bestimmt. Und … ich mich auch auf sie. Aber es geht ihr nicht gut. Sie leidet sehr und es tut mir weh, sie so zu sehen.“
Celeste wollte nicht fragen, was ihr fehlte. Sie fand, das ging sie nichts an, aber Dorothea erzählte es von sich aus. „Sie