Das Geheimnis der Madame Yin. Nathan Winters
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Mit geschätzten Grüßen und mit meinem zutiefst empfundenen Dank
Cynthia
Celeste ließ den Brief sinken und sah Mrs. Roover fragend an. Diese schüttelte aber nur leicht den Kopf. „Ich war nicht mutig genug und habe es ihr nicht gesagt. Ich dachte, ich hätte noch Zeit, aber dann traf der Brief meines Bruders ein. Jetzt ist es zu spät. In zwei Tagen wird sie abreisen und die ganze Reise regt sie bereits über alle Maße auf. Meine Liebe … ich fürchte, Dorothea wird in London vom Tod ihrer Freundin erfahren und ich weiß nicht, was sie dann tun wird. Ich will verhindern, dass sie wieder den alten Weg einschlägt, der sie dem Tod so nahe gebracht hat. Sie braucht eine Freundin, jemanden der ihr zuhört, der nicht aus ihrem angestammten Kreis kommt und dem sie vertrauen kann. Jemand, der ein wachsames Auge auf sie hat. Ich weiß, dass sie Sie mag. Sie hat es mir selber gesagt. Darum möchte ich Sie bitten, dass Sie Dorothea begleiten.“
Celeste war noch nicht überzeugt. „Was ist mit ihren Eltern? Haben Sie ihnen Ihre Bedenken nicht mitgeteilt?“
„Cynthia ist eine herzensgute Frau, aber von kränklicher Natur. Sie verlässt so gut wie nie das Haus und weiß nicht, was ihre Tochter tut. Und mein hoch geschätzter Bruder, der große Lord Ellingsford, hat vor allem seine politische Karriere im Sinn und weniger die seelische Gesundheit seiner Tochter. Ich hingegen kann die Augen nicht verschließen und darauf hoffen, dass alles gut wird. Bitte, helfen Sie ihr.“
Celeste atmete tief ein. Wenn sie zustimmte, war sie eine Gouvernante, aber was hatte sie schon zu verlieren? Akten sortieren und Briefe schreiben? Vielleicht würde Pinkerton sie auch gleich entlassen. Gründe hatte sie ihm genug geliefert. Wenn Sie aber Mrs. Roovers Angebot zustimmte und ihre Arbeit gut machte, würde sie sich vielleicht bei Pinkerton für sie verwenden. Ihre Zukunft als Detektivin hing von diesem einen Auftrag ab. Sie lächelte. „Ich bin einverstanden, Madam. Es wäre mir eine Freude.“
„Wunderbar.“ Die alte Dame lächelte dankbar. „Ich werde Ihnen in drei Tagen eine Kutsche schicken, die Sie abholen wird. Packen Sie ein, was Sie für nötig halten. Sie werden genug Platz haben. Und keine Sorgen wegen Ihrer Unkosten, darum werde ich mich kümmern.“
„Haben Sie vielen Dank, Madam. Auch für Ihr Vertrauen.“
„Ich muss mich bedanken. Sie haben eine alte Frau sehr glücklich gemacht.“ Sie seufzte und klingelte nach der Dienerschaft. „Dorothea wird bei Ihnen in guten Händen sein.“
„Ich werde mein Möglichstes tun, um Ihrer Nichte zur Seite zu stehen.“ Celeste wusste, ihr Leben würde sich von nun an ändern, ob zum Guten oder zum Schlechten, das musste sie abwarten.
29. August 1877 Im Hafen von New York
Die M. S. Cumberland lag mit rauchenden Schornsteinen im Hafenbecken. Gewaltige Taue hielten sie am Pier, während ihr stählerner Leib unter dem dumpfen Brummen der Maschinen erzitterte.
Bunte Fähnchen schmückten die Reling. Frauen mit ausladenden Hüten und weiten Kleidern flanierten am Arm ihrer Männer den Aufgang hinauf zum Schiff. Unter lauten Rufen, dem Ächzen von Seilwerk und dem Stampfen von Dampfmaschinen wurde die letzte Fracht verladen.
In all dem Trubel hielt eine Mietdroschke am Pier. Celeste stieg aus und atmete tief ein. Ein warmer Windhauch strich ihr über die Haut und die Luft war durchdrungen vom Geruch des salzigen Meeres. Sie liebte den Hafen, denn hier erinnerte sie alles an ihre Kindheit. Für sie bedeuteten diese Gerüche Heimat. New York war ihr Zuhause. Chicago war immer nur ihr Exil gewesen. Der Ort, an dem sie lebte, seit ihre Familie sie verstoßen hatte. Für einen Moment schloss sie die Augen und lauschte den Möwen, dem Wasser, das sich an den Schiffsrümpfen brach, und dem Gewirr verschiedenster Sprachen, die babylonisch durcheinander plapperten.
„Sie hätten sich wirklich nicht die Mühe machen müssen, mich zu begleiten.“ Die zarte Stimme gehörte Dorothea Ellingsford, die Celeste aus ihren Erinnerungen riss.
„Papperlapapp“, hörte sie Mrs. Roover keuchen. „Ich wollte es so. Außerdem hat es mir Freude gemacht. Ich bin schon ewig nicht mehr Zug gefahren.“
Celeste hielt sich etwas abseits. Sie wollte die beiden ungestört voneinander Abschied nehmen lassen.
„Ich wünschte, Sie könnten mitkommen.“ Dorothea rang mit den Tränen.
„Das wünschte ich auch, mein liebes Kind. Allein schon um das Gesicht deines Vaters sehen zu können. Er würde sicher einen riesigen Schrecken bekommen, wenn ich plötzlich vor ihm stünde.“
Beide lachten, dann deutete Mrs. Roover auf Celeste. „Miss Summersteen wird dir eine gute Freundin sein. Du bist also nicht alleine.“
Celeste fühlte, dass sie etwas sagen sollte, aber da ihr nichts einfallen wollte, lächelte sie nur aufmunternd.
Ein Nebelhorn dröhnte. Die Cumberland würde bald auslaufen.
„Es wird Zeit, mein Kind. Lass dich noch einmal ansehen.“ Die alte Dame hielt Dorothea bei den Armen. „Wir sehen uns ganz bestimmt wieder. Und solltest du Sehnsucht nach mir haben, dann schreib mir.“
Das Mädchen lächelte tapfer. „Ich schreibe Ihnen jeden Tag.“
„Du solltest kein Versprechen geben, das du nicht halten kannst.“ Ihr Lächeln verriet, dass sie die Worte nicht so ernst meinte.
Ein Diener trat hinzu. „Das Gepäck ist verladen, Madam.“
„Danke Gerald. Begleiten Sie Miss Dorothea bitte an Bord. Ich muss noch ein paar Worte mit Miss Summersteen wechseln. Gib gut auf dich Acht, mein Kind.“
Mit einer letzten Umarmung verabschiedeten die beiden sich voneinander.
„Celeste“, sagte die alte Dame gefasst.
„Madam?“
„Diese Briefe hier sind für meinen Bruder.“ In ihrer Hand hielt sie drei Umschläge.
„Der hier enthält eine Vollmacht von Mr. Pinkerton. Sie arbeiten in dieser Sache offiziell in seinem Auftrag.“ Celeste erkannte das Firmenzeichen. Ein geöffnetes Auge. Darunter der Schriftzug: We never sleep.
„Dieser hier ist von mir und erklärt, warum ich Sie angeheuert habe. Mein Bruder wird toben. Dafür kenne ich ihn gut genug. Er wird Sie nicht mit offenen Armen empfangen.“
Celeste nickte schweigend.
„Seine Ehre und sein Ansehen bedeuten ihm alles. Merken Sie sich das, wenn Sie mit ihm sprechen. Er ist ein schwieriger Mann.“
„Ja, Madam.“ Neugierig reckte Celeste den Hals und starrte auf den dritten Umschlag, den die alte Dame noch in der Hand hielt. Diese zögerte einen Moment und reichte ihn dann weiter. „Darin finden Sie alles, was ich über den Mord an Dorotheas Freundin erfahren konnte. Es ist nicht viel. Ein paar Zeitungsausschnitte, ein paar Briefe. Celeste … Ich will, dass Sie den Mörder finden und unschädlich machen. Auf amerikanische Art.“
Celeste