Revolutionen auf dem Rasen. Jonathan Wilson

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Revolutionen auf dem Rasen - Jonathan Wilson

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Chapman kehrte mit hohem Fieber nach London zurück, ignorierte den Rat der Vereinsärzte und sah sich das Spiel der Reservemannschaft gegen Guildford City an. Als er nach Hause kam, legte er sich ins Bett, doch war zu diesem Zeitpunkt bereits eine Lungenentzündung ausgebrochen. Am frühen Morgen des 6. Januar starb er, zwei Wochen vor seinem 56. Geburtstag.

      Dennoch gewann Arsenal noch die Meisterschaft und fuhr im darauffolgenden Jahr den dritten Titel in Folge ein. Einige Monate nach seinem Tod wurde eine Sammlung der Schriften Chapmans veröffentlicht. Darin bedauert auch er erstaunlicherweise das Ende eines weniger stark vom Wettbewerb geprägten Zeitalters: „Es kommt für eine Mannschaft nicht mehr darauf an, gut zu spielen. Man muss Tore erzielen, egal wie, und die Punkte holen. Die Qualität einer Mannschaft wird am Tabellenplatz gemessen. […] Vor 30 Jahren durften Männer noch ihr künstlerisches Handwerk zur Schau stellen. Heute müssen sie ihren Beitrag zu einem System leisten.“ Mit dem nun vorherrschenden Wettbewerbsgedanken ging eine Aufwertung der Taktik einher – und damit der Notwendigkeit, den Einzelnen in den Dienst der Mannschaft zu stellen.

      KAPITEL 4

       Wie der Faschismus das Kaffeehaus vernichtete

      Herbert Chapman war ein Einzelfall. Er hatte mit einer einzigen Änderung auf ein spezifisches Problem reagiert, und der englische Fußball folgte ihm, weil er die Wirksamkeit seines Systems mit drei Verteidigern erkannte. Keineswegs aber war damit ein Zeitalter englischer Taktiker eingeläutet. „Leider blieb der alte Gipsabdruck erhalten“, schrieb Willy Meisl. „Es gab keinen Fußballmagier oder -professor, der ihn in Stücke geschlagen und in eine andere Form gegossen hätte.“ Wenn überhaupt, tat man lieber so, als ob es die taktische Veränderung nie gegeben hätte und die altehrwürdige Schottische Furche intakt geblieben sei.

      Als die FA die Rückennummern 1939 zur Pflicht machte, ignorierte sie sämtliche neueren Entwicklungen und legte fest, dass der rechte Verteidiger die 2 tragen musste, der linke Verteidiger die 3, der rechte Läufer die 4, der Mittelläufer die 5, der linke Läufer die 6, der Rechtsaußen die 7, der rechte Halbstürmer die 8, der Mittelstürmer die 9, der linke Halbstürmer die 10 und der Linksaußen die 11 – ganz so, als ob das 2-3-5 immer noch der Standard sei und alle anderen Formationen nichts weiter als Variationen dieses Grundprinzips. Mannschaften, die im W-M-System spielten, wurden damit nach moderner Schreibweise 2, 5, 3 – 4, 6 – 8, 10 – 7, 9, 11 aufgestellt. In Großbritannien werden deshalb die Begriffe „centre-half “, also die Position des Mittelläufers, und „centre-back“, die Position des Innenverteidigers, synonym verwendet.

      Die Zeitungen ignorierten die Realität ebenfalls und druckten die Mannschaftsaufstellungen noch bis in die 1960er Jahre so ab, als wenn jede Elf 2-3-5 spielte. Zwar wurde beim Spiel des FC Chelsea gegen die Budapester Mannschaft Vörös Lobogó im Jahr 1954 der Versuch unternommen, die ungarische Aufstellung in der Stadionzeitung korrekt wiederzugeben – man war infolge von Englands 3:6-Niederlage gegen Ungarn in Wembley ein Jahr zuvor auf die taktischen Feinheiten aufmerksam geworden. Doch beharrte man weiterhin darauf, dass das eigene W-M-System eigentlich einem 2-3-5 entsprach. Nur aufgrund dieser konservativen englischen Sichtweise war es Peter Doherty, Trainer der Doncaster Rovers, in den 1950er Jahren möglich, mit der List eines gelegentlichen Trikottausches seiner Spieler Verwirrung bei den Gegnern zu stiften. Schließlich waren die ja daran gewöhnt, ihre direkten Gegenspieler an der Rückennummer zu erkennen.

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       Nummerierungsschema des 2-3-5

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       Nummerierungsschema des W-M-Systems in England

      

      Bevor die Bedeutung der Taktik allgemein anerkannt wurde, musste das Spiel erst von einer Gesellschaftsschicht aufgegriffen werden, die es instinktiv theoretisierte und analysierte. Einer Schicht, die sich bei der abstrakten Spielvorbereitung ebenso wohlfühlte wie bei der Umsetzung auf dem Platz. Einer Schicht, der nicht jenes Misstrauen gegenüber dem Intellektualismus innewohnte, das in Großbritannien vorherrschte. Genau dies war im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit der Fall. Was die Uruguayer und Argentinier praktisch vorführten, wurde von einem – größtenteils jüdischen – Teil des österreichischen und ungarischen Bürgertums in erklärende Worte gefasst. Die moderne Spielauffassung und die Diskussion darüber stammen aus den Kaffeehäusern Wiens.

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      In den 1920er Jahren boomte der Fußball in Österreich. 1924 wurde eine Profiliga mit zwei Klassen gegründet. Im November des gleichen Jahres fragte das Neue Wiener Journal: „Und welche Stadt sieht Sonntag für Sonntag selbst bei wenig einladendem Wetter zumindest 40.000 bis 50.000 Zuschauer auf allen Sportplätzen versammelt? Wo noch interessiert sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung für den Ausgang der Wettspiele, so dass man in den Abendstunden auf der Straße, in der Elektrischen, in den Gast- und Kaffeehäusern, im Kino und fast jeden zweiten Menschen von den Ergebnissen der Meisterschaftsspiele und von den Aussichten der Klubs in den nächsten Kämpfen sprechen hört?“ Die Antwort war simpel: Abgesehen von Großbritannien nirgendwo sonst in Europa.

      Doch während in Großbritannien die Spiele im Pub diskutiert wurden, tat man dies in Österreich im Kaffeehaus. In Großbritannien hatte der Fußball seinen Ursprung an den Privatschulen, war in den 1930er Jahren aber längst zu einem Sport der Arbeiterklasse geworden. In Mitteleuropa verlief die Entwicklung weniger geradlinig. Hier war Fußball von der englandverrückten Mittelklasse eingeführt worden, die Arbeiterklasse hatte ihn rasch übernommen, bevor die Intellektuellen das Spiel schließlich an sich rissen, obgleich sich die Mehrheit der Spieler weiterhin aus der Arbeiterschaft rekrutierte.

      In Mitteleuropa war der Fußball fast ausschließlich ein urbanes Phänomen, das sich auf Wien, Budapest und Prag konzentrierte. In diesen Städten war auch die Kaffeehauskultur am stärksten verwurzelt. Das Kaffeehaus erlebte gegen Ende des Habsburgerreiches seine Blütezeit und wurde zu einem öffentlichen Salon – zu einem Ort, an dem sich einerseits Männer und Frauen aller Klassen mischten, der sich andererseits durch seine künstlerische und durch die Boheme geprägte Atmosphäre auszeichnete. Dort lasen die Leute Zeitung, holten ihre Post und gereinigte Wäsche ab und spielten Karten und Schach. Kandidaten aus der Politik nutzten das Kaffeehaus als Bühne für Versammlungen und Debatten, während Intellektuelle und ihre Gefolgsleute die Ereignisse des Tages diskutierten: Kunst, Literatur, Theater – und im Laufe der 1920er Jahre in wachsendem Maße auch Fußball.

      Zu jedem Klub gehörte ein bestimmtes Kaffeehaus, in dem sich Spieler, Anhänger, Funktionäre und die schreibende Zunft mischten. Die Fans von Austria Wien beispielsweise trafen sich im Café Parsifal und die von Rapid Wien im Café Holub. Der Nabel der Fußballszene in der Zwischenkriegszeit war jedoch das Ring-Café. Zunächst kam dort vor allem die englandverrückte Kricket-Gemeinde zusammen. Bis 1930 war es dann zum Zentrum der Fußball-Gemeinde geworden. Einem in den Nachkriegsjahren erschienenen Artikel in der Welt am Montag zufolge war es eine Art revolutionäres Parlament von Fußballfanatikern, in dem kein Verein die Oberhand gewinnen konnte, weil ganz einfach jeder Wiener Fußballklub vertreten war.

      Die Wirkung des Fußballs auf die Kultur im weiteren Sinne lässt sich durch die Karriere von Rapid Wiens Mittelstürmer Josef Uridil verdeutlichen. Er stammte aus einem der Wiener Vororte – in jener Zeit unruhige Arbeiterviertel – und wurde für seine körperbetonte Spielweise gefeiert, entsprach sie doch den proletarischen Wurzeln des Vereins. Uridil war der erste Fußballheld der Kaffeehäuser. 1922 widmete ihm der bekannte Kabarettist Hermann Leopoldi das Lied „Heute spielt der Uridil“. Es hatte einen solchen Erfolg, dass Uridil selbst unter denjenigen berühmt wurde, die sich nicht für Fußball

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