Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren. Группа авторов

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Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren - Группа авторов Erfahrungsorientierte Bildungsforschung

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Als Holl kam, wurde das anders. Er hatte uns etwas zu sagen. Obwohl, oder gerade weil er mehr Fragen hatte als Antworten. Über Gott und die Welt, über die ersten und die letzten Dinge. Es gelang ihm, die Lust am Denken zu wecken, auch und vor allem widersprüchlichen Denken. Und die Freude am Diskutieren. Als wir einmal damit angefangen hatten, wollten wir gar nicht mehr damit aufhören.“ (2020, S. 33)

      Diese rückblickende Würdigung des Lehrers lässt jene wirkmächtigen Erfahrungen erkennen, die Lehrende im responsiven Geschehen mit den Lernenden machen, wenn sie über das gegenseitige Verstehen in Beziehung zu dem treten, was Sache ist. In einer lernseitigen Perspektive kann es einer Lehrperson eher gelingen, die Inhalte in der Begegnung mit den Lernenden responsiv zu gestalten, wenn die Aufmerksamkeit auf das Entstehende und nicht auf den angestrebten Zielpunkt gerichtet ist. Dies scheint der Kontrast zum Unterricht von Holls Vorgänger zu sein, die den Schüler*innen nichts sagten. Demgegenüber gelang es offensichtlich Lehrer Holl, bei seinen Schüler*innen in der Weltbegegnung nachhaltige Lernerfahrungen in der Auseinandersetzung mit ihren (Lern-)Inhalten in Gang zu setzen. Die für Henisch biografisch bedeutsame Erfahrung aus dem Religionsunterricht ist Zeugnis dafür, dass Menschen „durch Sinn- und Verstehensbedürfnis ausgelöste Erfahrungskrisen […] durchaus auch intellektuelles Vergnügen bereiten kann“, was Combe/Gebhard (2007, S. 8) in Frage stellen.

      Konzentriert sich die Lehrperson hingegen auf das Gelingen des Lehrens, wird sie wenig über die Lernerfahrungen ihrer Schüler*innen verstehen und ihr unterrichtliches Handeln bleibt dem zugrundeliegenden Zweck curricularer Vorgaben verhaftet, was an Lennys Erfahrungen im Laufdiktat aufgezeigen. Der Junge wird von seiner Lehrerin nur als Schüler wahrgenommen, der die gestellte Aufgabe (noch) nicht erfüllt hat, sodass sie den dritten Schritt gemäß I-R-E-Muster, die Bewertung der Schülerleistung, nicht vollziehen kann. Daher fordert Klafki:

      „Lehrer müssen sich bemühen, Kinder und Jugendliche als ganzheitliche (- d. h. aber keineswegs immer: als harmonische -) junge Menschen zu verstehen, die auch in der Schule nicht nur Schüler sind. Wer junge Menschen in der Schule nur als Schüler betrachtet, versteht sie auch als Schüler nicht!“ (2002, S. 178)

      In beiden Erinnerungssequenzen wird die Bildung der nachhaltigen Erfahrungen darauf zurückgeführt, dass sich sowohl Erkurt als auch Henisch im schulischen Unterricht nicht über den trivialisierenden I-R-E-Dreischritt als Schüler*in, sondern sich als sie selbst und in der Beziehung zum und zu Anderen erfahren haben. Damit hat sich offensichtlich der Verständnishorizont, mit dem sie der Welt begegnen, verwandelt (Combe/Gebhard 2007, S. 12). Wird Unterricht als ein responsives Geschehen verstanden, erfolgt ganzheitliches Lernen im Sinne einer lernseitigen Orientierung für Lehrende und Lernende im Wechselspiel von Raum geben und Raum nehmen, um die Wirkmacht des Möglichen zur Entfaltung kommen zu lassen. Diese nachhaltige Wirkung zeigt sich in den von Erkurt und Henisch geschilderten Erfahrungen an die sie prägenden Lehrpersonen.

      In der Umsetzung anspruchsvoller Zielbilder können pädagogische Entscheidungen „nie in völliger Sicherheit über die Wirkungen und Nebenwirkungen gefällt werden. Unterrichts- und Erziehungssituationen sind komplex und immer neu durch individuelle Besonderheiten, soziale Hintergründe und wechselseitige Erwartungen geprägt.“ (Zutavern 2003, S. 37) Demgemäß sind „autonome Handlungsspielräume, damit die Lehrerinnen und Lehrer flexibel auf ihre Ziele hinarbeiten können“ (ebd.) nötig. Wenn es darum geht, diese autonomen Handlungsspielräume zu erkennen, damit die Lehrenden flexibel auf ihre Ziele hinarbeiten können, gilt es, diese Momente zu erspüren, zu respektieren, ihnen Raum und Zeit zu geben und der Einzigartigkeit des persönlichen Augenblicks Rechnung zu tragen und den Unterricht responsiv auf diese persönlichen Lernerfahrungen auszurichten.

      Die bisherigen Ausführungen haben aufgezeigt, wie prägend Schule im staatlichen Auftrag als Mediatorin zwischen Individuum und Gesellschaft wirkt (Fischer, 2015): Sie formt junge Menschen auf ihrem Lebensweg in die Gesellschaft, gestaltet damit im Spannungsfeld zwischen Reproduktion und Transformation aber auch direkt und indirekt zukünftige Gesellschaft derart mit, wie sie deren Entwicklung fördert, hemmt, lenkt, stärkt (vgl. Schratz 2019). Schulen spielen somit eine einflussreiche gesellschaftspolitische Rolle, indem sie entweder ausgrenzen, disziplinieren, Homogenität und Anpassung fördern oder aber Vielfalt leben, Raum für Wachstum geben und Umwege in der individuellen Entwicklung ermöglichen oder verhindern. Aufgrund ihres gesellschaftlichen Auftrags und ihres prägenden Einflusses stehen Schulen im öffentlichen Interesse und geraten somit auch in die politische Auseinandersetzung. Daher wundert nicht weiter, wenn Combe/Gebhard (2007) sich fragen: „Ist die Schule überhaupt in der Lage, die hierfür notwendigen subjektiven Resonanz- und Erfahrungsräume bereit zu stellen? Sind die schulischen Lernarrangements sensibel, mutig und phantasiereich genug?” (S. 8) Mit diesen Fragen wird in der Tat die Spannweite der Möglichkeiten und Grenzen der Schule als Mediatorin zwischen Reproduktion und Transformation aufgezeigt.

      Zur Beantwortung dieser Fragen stelle ich beispielhaft die Erkenntnisse aus einem Projekttag an einem Wiener Gymnasium vor, der in Zusammenarbeit mit einem Theaterverein durchgeführt worden war. Dieser lädt Schüler*innen ein, Theaterstücke zu aktuellen Themen im Entstehungsprozess zu begleiten. Im gegenständlichen Fall hatten 26 Jugendliche in wochenlanger Vorbereitung einen Projekttag zum Thema Migration erleben geübt, um an unterschiedlichen Stationen die Probleme erfahrbar zu machen, die sich im Zusammenhang mit einer Flucht ergeben können. Am Tag der Durchführung betreuten die Jugendlichen die einzelnen Stationen. Hier ein Kurzbericht über den Ablauf des Projekttags:

      „Als am 21. Jänner die Kinder der Schule am Rande des Cottageviertels beim Türkenschanzpark das Schulhaus betreten, beginnt kein gewöhnlicher Schultag. Der Stundenplan ist ausgesetzt. Im Eingangsbereich informieren sie ausgewählte Schüler über das anstehende Projekt. Die Direktorin ist ebenfalls zugegen. Rund 35 Lehrkräfte begleiten das Stationenspiel. Die Schulpsychologin ist die ganze Zeit vor Ort. Es soll um ‚ein Erfahrbarmachen von Problemen, die sich in Zusammenhang mit einer Flucht stellen können, um Empathie und Menschenrechte‘ gehen, schreiben später die Lehrervertreter. Die rund 400 Schüler werden in Gruppen zu je 20 Personen zusammengefasst – nicht gemäß dem Klassenverband, sondern durch Zufall. Sie sind nun im Land ‚Infinitum‘. An mehreren Stationen sollen sie in diesem fiktiven Staatsterritorium ankommen. Dafür müssen sie etwa den Nationaltanz lernen, sie müssen die Sprache in rudimentärem Umfang erlernen, sie müssen Fragen beantworten. An einer Station üben sie sich im ‚Nationalsport‘ Bottleflip: Flaschensalto. In einer anderen Station malen die Kinder ihre Konterfeis auf die ausgegebenen Pässe. Das Aufsichtspersonal hat sich UNHCR-Binden um die Oberarme gelegt. Wenn jemand während des Spiels aussteigen will, kann er in ein ‚Anhaltezentrum‘ gehen, so wird ein umgestalteter Klassenraum genannt. Schüler backen Waffeln dort. Es bricht die große Pause an als die Schüler sämtliche Stationen durchlaufen haben und sich in der Turnhalle sammeln. Zweieinhalb Stunden hat das Spiel gedauert. Ebensolange wird danach über das Erlebte reflektiert.“ (Konzett 2020, S. 15)

      Der von den Schüler*innen vorbereitete Stationsbetrieb setzt den konventionellen I-R-E-Dreischritt in der Tiefenstruktur von Unterricht außer Kraft, denn projektförmige Verfahren überwinden den gewohnten Stundenplan und widersetzen sich den Anpassungsstrukturen institutionalisierten Lehrens und Lernens (Schratz 1996, S. 115). In der Konsequenz geht der gewählte Ansatz über das Unterbrechen der üblichen Routinen hinaus und setzt die Schüler*innen (mit Ausnahme der ersten Klassen [fünfter Jahrgang], die zeitgleich einen Kinobesuch absolvieren), einem unerwarteten Szenario aus, um sie leiblich erfahren zu lassen, was es heißt auf der Flucht zu sein. Die Außerkraftsetzung des Gewohnten stellt ein „Widerfahrnis“ (Waldenfels 2002, S. 15) dar, das in seiner Wucht krisenhaft erfahren werden kann. In der phänomenologisch orientierten Lernforschung

      „sind deshalb ‚Krisen‘, in denen eine Situation durch eingespielte Routinen nicht mehr bewältigt werden kann, die entscheidenden Konstellationen, in denen Erfahrungen gemacht werden können. Erfahrung wird also in ihrer Grundgestalt als ein Geschehen gedacht, das mit einer in die Krise

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