Aufbruch in die Dunkelheit. Mark Stichler

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Aufbruch in die Dunkelheit - Mark Stichler

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      „Nun, komm schon“, sagte er kühl.

      Der alte Escher trat ans Fenster seines Büros und dachte über Geisteskrankheit nach. Nicht dass ihn das Thema wirklich interessierte. Im Gegenteil. Es war ihm zuwider und er ärgerte sich darüber, dass sein Kopf sich mit solch abwegigen Dingen beschäftigte. Viel wichtiger wäre es, sich auf das bevorstehende Gespräch mit Mandelbaum vorzubereiten. Er musste jeden Augenblick hier sein und Escher hatte sich noch keine endgültige Vorgehensweise zurechtgelegt. Es war eine delikate Angelegenheit und er wollte die Kontrolle über das Gespräch behalten. Er würde sie behalten … Doch stattdessen schweiften seine Gedanken immer wieder ab und darüber ärgerte er sich noch mehr. Solche Zerstreutheit kannte er gar nicht an sich.

      Schuld war ein Artikel, den Hans vor Kurzem erwähnt hatte. Er handelte von neuen Beurteilungen und Behandlungsmethoden verschiedener Geisteskrankheiten. Hans interessierte sich sehr dafür und ließ sich von solchen Dingen immer sehr leicht beeindrucken. Begeistert hatte er beim Abendessen vor ein paar Tagen davon berichtet. Verschiedene Wissenschaftler, Doktoren und Professoren – Escher formulierte die Wörter in Gedanken mit einem verächtlichen Unterton – hatten neue Theorien über die Ursachen von Krankheiten wie Schizophrenie, Wahnvorstellungen und Melancholie aufgestellt und darauf basierend auch neue Möglichkeiten der Therapie entwickelt.

      Für einen kurzen Augenblick empfand Escher deutlich, wie sehr er es für einen Fehler hielt, körperliche und geistige Gebrechen zu trennen. Beide sollten seiner Meinung nach von den gleichen Ärzten behandelt und gar nicht in unterschiedliche Kategorien eingeteilt werden. Würde das ansonsten nicht für immer die geistigen Krankheiten in Misskredit bringen? Nicht dass er gegen eine genaue Analyse wäre … Aber er fühlte instinktiv, dass die Therapie und die Aussicht auf Heilung von der Umwelt des Patienten als vage und wenig verlässlich aufgenommen werden würden. Es war keine klare Sache wie die Behandlung eines Schnupfens, der danach definitiv endete, oder das Entfernen eines Geschwürs. Immer würde nach der Genesung von einer geistigen Schwäche eine kleine Unsicherheit zurückbleiben, ob die Heilung wirklich erfolgreich und endgültig war. Es wäre einfacher, daran zu glauben, wenn dieselben Ärzte sie herbeiführen würden, die eben auch einen Schnupfen behandelten. Ganz zu schweigen davon, dass er selbst der Meinung war, solche Störungen würden auf den Charakter schlagen.

      Der eigentliche Grund dafür, dass sich der alte Escher diese Gedanken machte, war allerdings nicht der Artikel. Er hatte ihm nur eine leise Ahnung, eine Befürchtung wieder in Erinnerung gerufen, die er früher einmal gehabt hatte: dass möglicherweise einer seiner Söhne unterschwellig an einer Art dieser als ‚geistig‘ klassifizierten Krankheiten litt und deshalb unter Umständen dieser Stigmatisierung des Unheilbaren, des Labilen und Unzuverlässigen ausgesetzt sein könnte, würde sie jemals ausbrechen. Nur um seinetwillen wollte Escher Gleichberechtigung. Anderenfalls hätte ihn das Thema völlig kaltgelassen.

      Der Marktplatz unter ihm lag jetzt fast vollständig in der Sonne. Inzwischen war dort einiges los, Dienstmädchen machten Besorgungen und stoppten auf eine kurze Unterhaltung am Brunnen. Der Bäckerjunge hastete mit zwei Broten unter dem Arm über den Platz. Er schien auf dem Weg zu Eschers Haus zu sein, vielleicht lieferte er eine Bestellung aus, die Maria aufgegeben hatte. Er klopfte seine mehlbestäubte Jacke ab, als er an zwei Damen vorübereilte, die offenbar zu der kleinen Modeboutique wollten, die sich seit ein paar Monaten hinter dem Rathaus befand. Der Schneider bezog seine Stoffe von Escher. Sichtlich empört blieben die beiden stehen und riefen dem Jungen etwas hinterher, doch er hielt nicht an. Kurz erregten drei Männer in eleganten Anzügen am anderen Ende des Platzes Eschers Aufmerksamkeit. Geschäftsleute vielleicht … Aber sie verschwanden in der Gasse hinter der Kirche, bevor er erkennen konnte, um wen es sich handelte.

      Der Raum hinter Escher lag im Halbdunkel. Schon des Öfteren hatte er in der Vergangenheit bemängelt, dass ausgerechnet das Büro des Bürgermeisters der dunkelste Raum im ganzen Rathaus war. Die kleinen, tief liegenden Fenster zeigten nach Norden und Osten und es kam vor, dass man trotz Sonnenschein die Lampen bereits am Nachmittag anzünden musste. Aber es war eben auch mit Abstand das größte Büro des Gebäudes. Also fand er sich damit ab.

      Er hatte es sich so gut eingerichtet, wie es nach seinen Maßstäben möglich war. An den getünchten Wänden waren goldene Gasleuchten angebracht, den Dielenboden bedeckte ein beigefarbener, mit orientalischen Ornamenten bestickter Teppich, den er von einer seiner Geschäftsreisen mitgebracht hatte. Er nahm ein gutes Viertel des Bodens ein und reichte bis zu seinem schweren Schreibtisch, der schon seit Generationen unverrückt im hinteren Drittel des Zimmers stand. Entlang der Wand neben der Tür, die hinaus auf den Flur führte, reihten sich einige schmale Stühle mit hohen Lehnen. Vor dem Schreibtisch, in schrägem Winkel zueinander, standen zwei Sessel, deren Lehne und Sitzfläche aus Leder waren. An der Wand dahinter hatte ein Maler die Wappen Waldbrüggs und der umliegenden kleineren Gemeinden mit zunehmend verblassenden Farben aufgetragen. An manchen Stellen bröckelte der Putz. Es war dringend notwendig, die Malerei auszubessern. Doch der alte Escher hatte keinen Sinn dafür. Er kannte es nicht anders. Schon sein Großvater hatte in diesem Büro gesessen und in den wenigen Malen, die er ihn als Kind in diesem Raum besuchen durfte, war ihm das Wappen, so, wie es war, immer als bedeutend und gewichtig erschienen.

      Es klopfte leise an der Tür.

      „Ja?“ Escher fuhr sich mit einer hastigen Bewegung über den Bart und wandte sich um.

      Herr Albrecht, der Sekretär, der seine Termine im Rathaus verwaltete, streckte den Kopf zur Tür herein. Es dauerte einen Moment, bis er den Bürgermeister am Fenster entdeckte.

      „Mandelbaum ist da“, sagte er und richtete seinen starren, stechenden Blick auf Escher.

      „Einen Moment“, erwiderte Escher und begab sich hinter seinen Schreibtisch. Er wollte Mandelbaum auf keinen Fall stehend empfangen. Vor ihm lagen Baupläne der neuen Brücke und einige Ordner. Willkürlich schlug er einen von ihnen auf.

      „Schicken Sie ihn herein“, sagte er dann und nahm seine Brille.

      Herr Albrecht zog die Tür wieder ein Stück zu und einen Moment später trat Mandelbaum mit Schwung, aber doch beinahe geräuschlos ein. Er war ein schmaler Herr, an den Schläfen wichen seine grauen Haare schon deutlich zurück. Sein für Waldbrüggs Verhältnisse sehr moderner, aber nicht extravaganter Anzug saß tadellos. Einen kurzen Augenblick blieb er stehen und kniff die Augen zusammen, wie um sich an die diffusen Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Vielleicht trug er normalerweise auch eine Brille, die er jetzt aber nicht bei sich hatte. Leichtfüßig bewegte er sich durch den Raum und blieb vor Eschers Schreibtisch stehen.

      „Jakob, nur einen ganz kurzen Moment“, murmelte Escher. Er hatte die Stirn in die Hand gestützt, einen Stift vom Schreibtisch genommen und kritzelte eine Notiz in die Akte, die er aufgeschlagen hatte. „Setz dich doch.“ Er zeigte mit dem Stift auf einen der Sessel vor sich.

      Mandelbaum lächelte.

      „Guten Tag, Franz.“ Er sah sich um. „Ich warte“, sagte er, setzte sich aber nicht in den Sessel, sondern ging hinüber zu dem Fenster, an dem vor wenigen Minuten noch Escher selbst gestanden hatte.

      Escher zog unwillig die Augenbrauen zusammen und zwang sich, seine Notiz zu Ende zu schreiben. Einen Augenblick herrschte Stille. Schließlich legte Escher den Stift beiseite.

      „So. Nun komm. Setz dich doch“, sagte er und klang ein wenig ungehalten.

      Mandelbaum kam vom Fenster zurück und setzte sich. Escher blickte ihn an und lächelte unverbindlich. Unwillkürlich musterte er ihn. Sie kannten sich schon lange und immer hatte er den Eindruck gehabt, als ginge die Zeit fast spurlos am alten Mandelbaum vorbei. Doch jetzt sah er müde aus, kleine, aber sichtbare

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