Aufbruch in die Dunkelheit. Mark Stichler
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Читать онлайн книгу Aufbruch in die Dunkelheit - Mark Stichler страница 8
Escher stand immer noch an der Tür, die Klinke in der Hand, und starrte gedankenverloren vor sich hin. Die Verträge gekündigt … Das war doch eigentlich eine Ungeheuerlichkeit. Er erinnerte sich, wie er in Mandelbaums Möbelmanufaktur gestürmt war, völlig außer sich. Beziehungsweise fassungslos. Er war überzeugt gewesen, dass es sich nur um einen Irrtum handeln konnte. Ja, sicher, sie hatten die Preise etwas angehoben. Aber das war doch noch lange kein Grund, gleich alles hinzuwerfen. Doch genau das war passiert. Escher schüttelte wieder den Kopf, als könne er es immer noch nicht glauben. Das war eben diese typisch jüdische Art, Geschäfte zu machen. Kompromisslos gegen Freund und Feind, rein auf den Profit bedacht. Ohne Wenn und Aber kappte der Alte jahrzehntelange Geschäftsverbindungen, ohne mit der Wimper zu zucken. Über zwanzig Jahre hatte Escher Mandelbaums Möbelmanufaktur, deren Markenzeichen, die großen drei M, inzwischen bis über die Landesgrenzen hinaus bekannt war, mit Stoffen beliefert. Und dann erklärte ihm der alte Mandelbaum eiskalt, er habe einen neuen Lieferanten gefunden, der bei gleicher Qualität wesentlich günstiger liefere.
„Idiot“, sagte Escher leise, holte tief Luft und ging zurück zu seinem Schreibtisch. Er versuchte, sich auf die vor ihm liegende Akte zu konzentrieren, aber es gelang ihm nicht. Gut, er war Mandelbaum im Preis nicht entgegengekommen. Vielleicht hätte er das zumindest in Erwägung ziehen sollen. Aber damals hatte er im Traum nicht daran gedacht. Er hatte das alles nur für einen billigen Schachzug des Alten gehalten und nicht einmal Hans ins Vertrauen gezogen. Sicher würde Mandelbaum bald wieder zu ihm kommen, hatte er gedacht, zu Kreuze kriechen sozusagen. Escher lächelte grimmig, als ihm die doppelte Bedeutung des Wortes aufging.
Doch offensichtlich hatte Mandelbaum tatsächlich einen günstigeren Lieferanten gefunden. Er kam nicht, Escher hörte nichts mehr von ihm und blieb auf einem Großteil seiner Ware sitzen. Nicht, dass ihn der Verlust des Auftrags wirklich in Schwierigkeiten gebracht hätte. Das nicht. Aber andererseits machten die Lieferungen an die Mandelbaum’sche Möbelmanufaktur einen nicht unerheblichen Teil seines Umsatzes aus.
Escher hatte keine Ahnung, ob sein Angebot vorhin überhaupt bei Mandelbaum angekommen war. Wenn ja, dann hatte er sich auf jeden Fall sehr bedeckt gehalten und mit keiner winzigen Reaktion zu erkennen gegeben, dass er verstanden hatte. Ärgerlich schlug Escher die Akte zu. Er hatte seine Karten viel zu leichtfertig ausgespielt, plump beinahe … Er erhob sich abrupt. Es hatte keinen Zweck. Er konnte sich jetzt einfach nicht auf die städtischen Angelegenheiten konzentrieren. Was ihm noch heute Vormittag als ein guter Plan erschienen war, kam ihm jetzt albern und peinlich vor. Das Gespräch war katastrophal verlaufen. Was würde Mandelbaum bloß von ihm denken? Über diesen Gedanken ärgerte er sich noch mehr. Er nahm Mantel und Hut und verließ sein Büro.
„Ich bin im Kontor“, rief er unten in der Halle in Albrechts Zimmer.
„Herr Bürgermeister“, rief Albrecht verblüfft. Er sprang auf und eilte zu seiner Tür. „Herr Escher … So früh?“
„Ja“, erwiderte Escher gereizt und öffnete ohne weitere Erklärung die schwere Eichentür des Rathauses, die hinter ihm schwer wieder ins Schloss fiel.
Mandelbaums Haus und sein ehemaliges Kontor lagen in einer engen Gasse am Rand des kleinen Judenviertels Waldbrüggs. Die Manufaktur hatte er nach dem Bekanntwerden der Pläne für den Bau einer neuen Brücke nach außerhalb der Stadtmauern auf die gegenüberliegende Seite des Flusses verlegt. Das Haus stak mit düsterer, fast schwarzer Fassade wie eingequetscht zwischen zwei anderen ähnlicher Bauart, die jedoch viel kleiner wirkten. Doch man sah auch dem Mandelbaum’schen Haus von außen kaum an, wie groß es tatsächlich war, da es sich weit nach hinten erstreckte. Und trotz Avas unermüdlichen Bemühungen mit Blumen und Gardinen zeigte es zur Gasse hin stets ein düsteres und abweisendes Gesicht. Wenn Ava und ihr Bruder Simon zu kleinen Abendgesellschaften einluden – was selten der Fall war –, mussten die wenigen Gäste, die mit einer Kutsche kamen, immer vorne an der Straße aussteigen und die paar Meter bis zur Tür zu Fuß zurücklegen. Die Gasse war schlicht zu schmal für einen Wagen und zwei Pferde.
Mandelbaum betrat das Haus durch eine unscheinbare seitliche Tür. In dem kleinen, angrenzenden Vorraum war es düster und dunkel. Nur eine kleine Tranlampe erhellte den Flur notdürftig. Das ganze Haus war inzwischen mit Gaslampen ausgestattet. Nur hier, im Eingangsbereich, hatte es Mandelbaum bei den alten Öllampen belassen.
Nach wenigen Metern führte der Gang zu einer Tür im Erdgeschoss. Dort ging es zum alten Kontor, das sich im hinteren Haus in erstaunlichen Ausmaßen übers gesamte Erdgeschoss erstreckte. Jetzt stand es leer, nur ein paar alte Möbel und Ausschussware lagerten noch darin. Mandelbaum dachte an Ava und musste schmunzeln. Sie behauptete steif und fest, dass es seit dem Umzug dort spuke. Merkwürdige Geräusche würden am Abend und in der Nacht aus den Räumen hinter der Tür dringen. Ihr Bruder hatte ihr daraufhin geraten, in der Nacht zu schlafen und nicht allein durchs Haus zu wandern.
Neben der Tür führte eine dunkle, schmale Treppe hinauf zu den Wirtschafts- und Wohnräumen. Im ersten Stock wurde es unerwartet heller, denn die Rückseite des Hauses stand frei und durch die schmalen Fenster drang mehr Licht. Der alte Mandelbaum betrat das Wohnzimmer. Es war ein geräumiger, heller Raum, der sich von der Tür aus in einer Art auf dem Kopf stehender L-Form nach hinten erstreckte. Am Fenster beim Eingang stand ein Tisch, dekoriert mit einer Vase und den ersten Blumen des Frühlings. Daneben waren ein paar Stühle gruppiert, dahinter, wie eine Insel in der Mitte des Raums, eine Sitzgruppe, bestehend aus drei schweren Sesseln, einem großen Sofa und einem niedrigen Tischchen. Eine ähnliche Gruppe, nur leichter und eleganter, stand hinten im Raum, etwas im Eck versteckt. Insgesamt wirkte der Raum, so verlassen wie er jetzt schien, beinahe wie ein Ausstellungsraum für Möbel, der vielleicht zwei der Design-Linien der Möbelmanufaktur präsentierte. Auf jeden Fall waren sie etwas zu mondän und zu ausladend für das Zimmer. Dank seiner Schwester Jella standen die Sessel, Sofas und Chaiselongues der Marke MMM auch in vielen Salons großer Städte wie Hamburg, Frankfurt und Berlin. Ohne sie und ihre Beziehungen zu den Künstler- und Bürgerkreisen dieser Städte wäre die Manufaktur nie zu dem Ruf gelangt, der ihren jetzigen Erfolg ausmachte.
Als Mandelbaum die Sitzgruppen mit einem prüfenden Blick musterte, regte sich jemand in einem der hinteren Sessel. Der Raum war nicht verlassen, wie er anfangs angenommen hatte. Ava saß dort und stickte. Sie hatte die Tür gehört und beugte ihren Oberkörper vor, um zu sehen, wer das Zimmer betreten hatte.
„Du bist schon wieder zurück?“, rief sie überrascht, als sie ihren Vater entdeckte.
„Ja.“ Mandelbaum seufzte.
Ava legte ihr Stickzeug beiseite und trat zu ihrem Vater.
„Was wollte er denn?“, fragte sie neugierig.
Mandelbaum betrachtete sie ernst. Die dunklen Locken, den hellen Teint … Die lebhaften, beinahe schwarzen Augen hatten sie und ihr Bruder von ihrer Mutter geerbt, die schon vor vielen Jahren gestorben war. Ava trug ein einfaches, schlichtes Frühlingskleid, das den Raum heller machte. Sie selbst machte den Raum heller, fand Mandelbaum. Er schüttelte den Kopf und lächelte.
„Es war wohl doch nicht so wichtig, wie ich gedacht hatte“, sagte er. „„Außerdem ist das keine Frage, die eine Tochter ihrem Vater stellt. Du könntest zum Beispiel fragen, ob ich müde bin. Oder ob ich zu Mittag essen will. Oder …“
„Ja, ich weiß schon …“, unterbrach Ava ihn und nickte ungeduldig. „Fragen, die ein braves Mädchen seinem Vater eben stellt.“ Sie hakte sich bei Mandelbaum unter. „Aber da hast du mich wohl falsch erzogen.“ Sie lachte. „Nun sag schon, Papa. Was wollte Escher denn so dringend?“
Mandelbaum