Flucht nach Mattingley Hall. Nicola Vollkommer
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Читать онлайн книгу Flucht nach Mattingley Hall - Nicola Vollkommer страница 19
»Was wollen Sie jetzt schon wieder, Trentham?«
Sein Ton war aufgebracht, nervös.
»Sie haben doch alles, was Sie wollten. Können Sie sich nicht damit begnügen?«
Als keine Antwort von Trentham kam, wirbelte er herum. Er wurde bleich, als er Jasmin in der Tür stehen sah. Er starrte sie an, als ob ein Gespenst aus dem Nichts erschienen wäre.
»Was um Gottes willen hast du hier zu suchen?«
Jasmin rang nach Worten.
»Ich … ich wollte dich sehen. Ich hatte so viel Angst, ich träumte wieder … ich sehnte mich … du hattest gesagt, dass ich …«
Weiter kam sie nicht. In ihrer Seele stießen zwei Welten gewaltsam aufeinander. Es wurde ihr schwindelig, ihre Knie wurden weich, sie hielt sich am Türrahmen fest. Wie oft war sie in den vergangenen Tagen in ihrer Fantasie auf ihn zugerannt, hatte sich in seine Arme geworfen, seinen festen Griff um ihren Körper gefühlt, seine Küsse in ihren Haaren, seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht.
Plötzlich war alles klar. Natürlich freute er sich nicht, sie zu sehen. Er war ein viel beschäftigter, bedeutender Mann, offensichtlich mitten in weitreichenden Beratungen. Das hätte sie wissen können. Dieses ganze Unterfangen war nichts als ein Hirngespinst gewesen. Jetzt stand auf einmal ein Fremder vor ihr, fern, kalt, abweisend. Die Stille, die herrschte, war bedrückend. Sie hätte alles darum gegeben, im Boden versinken zu können. Das lange Schweigen fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Sie musste irgendetwas sagen, irgendetwas tun. Alles war erträglich, nur nicht diese lähmende Stille.
»Ich habe es gewusst, ich habe es gewusst, dass es so kommen würde!«, schrie sie, drehte sich um, raffte ihren Rock mit einer Hand hoch, stützte sich mit der anderen am Holzgeländer und flog die Treppe hinunter, zwei, drei Stufen mit jedem Sprung, rannte über die Marmorfliesen und hinaus auf die Straße. Sie musste an die frische Luft, ihre taumelnden Gedanken in den Griff bekommen, versuchen, nicht wahnsinnig zu werden, sich bemühen, den Gestank von Papier, Tinte und alten Zeitungen aus ihrem Bewusstsein zu verbannen.
Das Rumpeln von Rädern auf dem Kopfsteinpflaster drang in das dunkle Chaos ihres Bewusstseins. Eine Mutter zog ihr schreiendes Kind an der Hand und schimpfte lautstark. Der Säugling, den sie unter ihren Arm geklemmt hielt, fing an, laut zu kreischen. Ein Spatz wusch sich in einer Pfütze in der Nähe der Treppe. Bildete sie es sich nur ein, oder hatte das Wasser in der Pfütze einen rötlichen Schimmer? Die Schreie von Markthändlern, die ihre Waren in Leiterwagen einpackten und hofften, in letzter Minute doch noch Kundschaft zu gewinnen, waren in der Ferne zu hören.
Jasmin saugte die banalen Kleinigkeiten eines normalen Spätnachmittags in London in ihrer erschütterten Seele gierig auf. Alles war besser als die unheimliche Stille in dem Gebäude, das sie gerade verlassen hatte.
»Adam! Du bist es!«, rief sie erleichtert, als die Kutsche, die gerade an ihr vorbeifuhr, plötzlich anhielt und eine vertraute Gestalt vom Fahrersitz heruntersprang.
»Sie sind schon viel zu lange weg, Mylady, ich dachte, Sie sind froh, wenn Sie die Strecke zurück zum ›Prince and Carriage‹ nicht zu Fuß zurücklegen müssen.«
»Ich hätte die kurze Strecke ohne Probleme bewältigt«, antwortete Jasmin schnell. Sie war ganz außer Atem. »Aber du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, dich zu sehen, lieber Adam. Wir holen meine Sachen und fahren so schnell wie möglich wieder nach Hause. Wo ist Nancy?«
»Sie wird Ihren Koffer schnell fertig machen, dann fahren wir los. Alles in Ordnung, Mylady?«
»Selbstverständlich, Adam. Mein Gesicht ist nur vom Treppenlaufen rot, und ich bin leicht unpässlich, das ist alles.«
Jasmin wusste, dass Adam ihr kein Wort glaubte, aber es war ihr gleich. Hauptsache weg von hier. Sie brauchte die Ungestörtheit der Kutsche, um ihre aufgewühlte Seele wieder zur Ruhe zu bringen. Danach konnte sie überlegen, wie sie ihren schrecklichen Fehltritt am besten wiedergutmachen und welche Erklärung sie Hubertus geben konnte.
»Jasmin! Warte!«
Als Hubertus Argyle atemlos aus der Tür eilte, die Außentreppe zur Straße hinuntersprang, anhielt und nach rechts und links blickte, war die Kutsche der Familie Devreux gerade um die Ecke verschwunden. Eine Stunde später rüttelte sie schon durch die Londoner Vorworte Ealing und Harrow Richtung Norden.
3
Kein Adliger, der bei Sinnen war, baute ein Herrenhaus im Umfeld des Wommeslocker Tals. Wommeslock war eine lang gezogene Schlucht, die an einem ihrer nördlichsten Punkte eine tiefe Furche durch die Bergkette der Penninen zog. Selbst auf den obersten Hängen bot der saure Boden nur den hartnäckigsten Arten von Heidekraut, Torfmoos und Farn Nahrung. In der Talsohle sammelte sich alles, was von den höheren Hängen hinuntersickerte, und verwandelte den Boden unten in der Senke in einen schwarzen Morast: schmelzender Schnee, Regenwasser, flüssiger Schlamm, Reste von Überschwemmungen, die keine anderen Abflussbahnen gefunden hatten. Auch an sonnigen Tagen sorgten die steilen Berghänge dafür, dass kaum ein Sonnenstrahl es schaffte, einen Lichtschimmer in diesen tief liegenden, dunklen Winkel des Tales zu tragen. Undurchsichtige Dünste stiegen aus dem Sumpf empor, die einen modrigen Gestank in die Höhe trugen. Wenn die Hölle einen Vorraum habe, behaupteten Bewohner der umliegenden Dörfer, dann hier. Die wildesten Mythen schwirrten um die dunkle Grube von Wommeslock. Nur gelegentlich wagte ein Reisender, der es eilig hatte, den Bergweg am Rande der Schlucht zu nehmen, der als Abkürzung zwischen den nahe gelegenen Dörfern Malheaton und Windsley diente.
Ein Adliger aus ferner Vergangenheit war so weit von Sinnen gewesen, dass er tatsächlich ein Herrenhaus auf einem breiten Felsvorsprung an einer der dunklen Steinwände des Tals gebaut hatte. Earl Sinclair von Mattingley war sein Name gewesen. Die einzige Überlebende aus seiner aussterbenden Linie war Lady Harriet Mattingley, gegenwärtige Besitzerin und Bewohnerin von Mattingley Hall. Niemand konnte sich erinnern, seit wann genau sie dort an dem trostlosen Hang von Wommeslock wohnte. Es wurde gemunkelt, dass sie eine wilde Jugend in den vornehmsten Kreisen in London verbracht hatte. Überhaupt wurden viele Gerüchte über die Bewohnerin des mysteriösen Hauses verbreitet. Keiner wusste, was davon Wahrheit und was frei erfunden war. Aber in diesem Teil Nordenglands waren die Grenzen zwischen Mythos und Wirklichkeit seit jeher fließend, und keiner störte sich daran.
Von außen war Mattingley Hall – zumindest bei Einbruch der Dämmerung oder im Morgengrauen – kaum von den schattigen Felsen zu unterscheiden, die hinter dem Haus in die Höhe ragten. Das Leben im Innern des Hauses bildete jedoch einen krassen Gegensatz zu seinem matten und leblosen Erscheinungsbild. Ein normaler Tag fing mit den ersten lautstarken Befehlen aus den Gemächern von Lady Harriet an. Sobald sie erste Lebenszeichen von sich gab, waren die drei anderen Bewohner des Hauses am Springen, und das Tagwerk in Mattingley Hall begann. Dieses Tagwerk bestand lediglich aus der Aufgabe, mit Lady Harriets willkürlichen Launen mitzuhalten und ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen, bis sie sich abends zur Ruhe legte.
»Mabel, Mabel!«,