Flucht nach Mattingley Hall. Nicola Vollkommer
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Читать онлайн книгу Flucht nach Mattingley Hall - Nicola Vollkommer страница 21
»Am besten entschuldige ich mich gleich für meine Existenz, sobald ich ihren Raum betrete.«
»Du entschuldigst dich zu viel, Mabel«, sagte Jason, fegte die Überbleibsel des Kohlestaubs vor dem Kamin in eine Schaufel und warf sie auf das Feuer.
»Hier, lass mich deine Tasse nachfüllen.«
»Aber ich bin doch ein kluges Mädchen!«, jammerte Mabel beim Schlürfen ihrer Milch. »Ich kann zählen, ich habe von meinem Bruder die Buchstaben gelernt. Meine Mutter meint, ich könnte für eine feine Lady sogar Zofe oder Begleiterin sein, so klug bin ich. Aber Lady Harriet …«
Sie fing an zu weinen.
Jason setzte sich ihr gegenüber, reichte ihr ein Taschentuch, das er aus seiner Hosentasche gezogen hatte, und schaute sie mit ernstem Blick an.
»Mabel, ich habe guten Grund hierzubleiben. Ich bin alt, habe nichts mehr zu verlieren. Und ich habe noch Bilder im Kopf, wie Lady Harriet früher war. Eine wunderschöne Frau. Die Sonne ging auf, sobald sie einen Raum betrat. Aber du glaubst es nicht, keine Spur von Eitelkeit hatte die Frau. Sie war einfach schön, weil es ihr nicht wichtig war, schön zu sein. Es sprühte aus ihrem Inneren. Sie spielte Theater im Covent Garden. Jeden Abend.«
Er schaute mit abwesendem Blick zum Fenster, während er sprach. Plötzlich stand er auf und lief zum Speiseschrank.
»Aber du hast nichts, was dich hier halten muss, Mabel, außer dass du der einzige vernünftige Mensch bist, der in diesen dunklen Gemächern ein und aus geht, und das weiß ich sehr zu schätzen.« Er holte einen Korb voll Kartoffeln von einem Regal im Schrank. »Wenn ich die Treppe so flink hochrennen könnte wie du, dann würde ich dir die Arbeit abnehmen. Ich kenne sie gut genug, um keine Angst mehr vor ihr zu haben.«
Mabel trank noch einen Schluck Milch und wischte sich mit einem Taschentuch die Reste vom Mund.
»Irgendetwas quält die alte Dame. Ich denke, ihr Tod wäre eine Erlösung, findest du nicht?«
»Sie traut sich nicht zu sterben, Mabel.«
Das Dienstmädchen schaute Jason mit großen Augen an.
»Was heißt, sie traut sich nicht?«
»Es gibt Dinge in ihrem Leben, die sie noch nicht erledigt hat.«
»Ist es möglich, dass man sich nicht traut zu sterben?«
»Bei ihr schon.«
Jason seufzte.
»Die Frau hat schlimme Schicksalsschläge erlitten. Mattingley Hall war ihre letzte Zuflucht. Deshalb zählt sie die vielen Bediensteten immer auf. Das erinnert sie an den Glanz der Ballsäle Londons.«
Er nahm ein Tuch und wischte mit abwesendem Blick über die Arbeitsfläche neben dem Herd, bevor er sich noch einmal zu Mabel hin umdrehte.
»Du bist erst ein paar Wochen hier, Kind. Falls du es hier länger als deine Vorgängerinnen aushältst, dann entdeckst du selber so manches. Lady Mattingley hat ja auch klare Momente, die hin und wieder unverhofft kommen. Vielleicht stößt du auf Geheimnisse, von denen nicht einmal ich etwas weiß.«
»Eins kenne ich schon. Nicholas. Gibt es ihn wirklich?«
Jason lachte laut.
»Lady Harriet hat eine üppige Vorstellungskraft, liebe Mabel, aber Nicholas hat sie nicht erfunden. Irgendwann taucht er auf!«
»Na, dafür würde es sich lohnen zu bleiben!«
Jason stand schon in der Tür.
»Er ist ihr Neffe. Aber jetzt schleppe ich meine müden Füße die Treppe hoch und schaue, ob meine verehrte Herrin sich inzwischen beruhigt hat. Du darfst hier weitermachen.«
Er drückte Mabel den Putzlappen in die Hand und humpelte zur Treppe.
»Die Pferde wechseln wir erst in Nottingham«, sagte Jasmin. »Sie sind frisch genug, um einen Nachtritt durchzuhalten.«
Adam schüttelte den Kopf. Er hatte angehalten, um Jasmin nach ihren Wünschen für die weitere Reise zu fragen. Es war sinnlos, Widerstand zu leisten, wenn sie in diesem Befehlston sprach. Außerdem war es ja auch ihm recht, so schnell wie möglich zu reisen. Die Straßen nach Norden waren Durchfahrtsrouten, die durch Ortschaften und Dörfer führten: sicher genug, auch bei Nacht. Es regnete ununterbrochen, seit sie London verlassen hatten. Mit viel Gegenverkehr rechnete Adam nicht. Der Regen schlug ihm ins Gesicht, als er die Flanken der Pferde abrieb und ihre Hufe nach Kieselsteinen überprüfte. Danach zündete er die Laternen an beiden Seiten der Kutsche an, holte eine Plane, um sich und Nancy vor der Nässe zu schützen, und sprang wieder auf den Sitz.
Jasmins Weinkrämpfe wechselten sich mit stundenlanger lähmender Benommenheit ab. Ihr starrer Blick blieb auf die Fensterscheibe gerichtet, und sie versuchte, der Erschöpfung nicht nachzugeben, die sie zu überwältigen drohte. Bloß nicht einschlafen. Ihr letztes Refugium vor den Albträumen war zusammengebrochen. Der feste Boden, auf dem sie gemeint hatte zu stehen, hatte sich als Trugschluss erwiesen. Hubertus liebte sie nicht. Er konnte ihr nicht helfen. Sie war den Dämonen, die an ihrer Tür lauerten, schutzlos ausgeliefert. All die rosigen Träume, die ihre Seele in den vergangenen Wochen am Leben erhalten hatten, lagen in Scherben zu ihren Füßen. Sie wollte nur noch eines: zu Hause in Kebworth sein. Die Pferde konnten nicht schnell genug galoppieren. Jedes Mal wenn Adam die Zügel anziehen musste, weil eine Kutsche aus der Gegenrichtung kam, jedes Mal wenn er an einer Kreuzung anhielt, wurde Jasmin fast wahnsinnig vor Ungeduld.
Adam trieb die Pferde an. Wasser spritzte und zischte von ihren Hufen wie auch von den Rädern hoch, Regen prasselte auf das Dach der Kutsche. Jasmin verlor bald jedes Gefühl dafür, wie lange sie schon unterwegs waren. Sie legte ihren Kopf auf die Ledertasche, die neben ihr auf dem Sitz lag, und schlief irgendwann trotz allen Widerstandes ein.
Erst als es plötzlich still war, wachte sie ruckartig wieder auf. Ein nebeliges Morgengrauen schimmerte durch die Fensterscheibe. Pferde schnaubten und stampften, Zaumzeug klirrte, Männer grüßten sich und lachten. Der Regen hatte aufgehört. Adam öffnete die Tür von außen.
»Nottingham, Mylady. ›Sherwood Hunter’s Inn‹. Wir ruhen uns hier im Kutschhaus aus, frühstücken und fahren dann auf schnellstem Wege nach Kebworth!«
»Wir ruhen hier überhaupt nicht aus, Adam«, antwortete Jasmin. »Wir fahren weiter. Ich will nach Hause. So schnell wie möglich.«
»Bei allem Respekt, Mylady. Wir schirren die Pferde hier ab, füttern sie und stallen sie und fahren mit frischen Pferden weiter. Ich bin durchnässt und erschöpft, Nancy bibbert am ganzen Körper vor Kälte, und auch Sie müssen an die frische Luft und die Beine ausstrecken.«
»Hab ich richtig gehört, Adam? So eine unverschämte, verdrossene Widerrede, nachdem ich dir klare Befehle erteilt habe? Wir fahren nach Hause, und zwar sofort! Sonst erfährt mein Vater von diesem Gespräch.«
»Eher erfährt er Verschiedenes von mir, Mylady. Seit wann verlangen Mitglieder der Familie Devreux, dass Bedienstete ihre Pferde bis zur Erschöpfung antreiben und dass junge Dienstmädchen es