Flucht nach Mattingley Hall. Nicola Vollkommer

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Flucht nach Mattingley Hall - Nicola Vollkommer

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Tür von Lady Harriets Zimmer.

      »Was wünschen Sie, Mylady?«

      »Regnet es draußen, Mabel?«

      »In Strömen, Mylady.«

      »Warum bist du so rot im Gesicht, Mabel?«

      »Weil ich gerannt bin, Mylady.«

      »Nach drei Monaten in diesem Haus müsstest du die Treppe doch schon längst gewohnt sein.«

      »Ja, Mylady.«

      »Ich will wissen, wie stark es regnet, Mabel. Das Wetter drückt so richtig auf die Fensterscheiben.«

      »Ja, Mylady.«

      Mabel eilte zum Fenster und zog den dicken Vorhang zur Seite, der die Sicht nach draußen auch tagsüber versperrte. Nicht dass viel zu sehen gewesen wäre. Regenströme trommelten gegen das dicke Glas. Der blasse Schein, der nun vom Fenster kam, beleuchtete die winzige Gestalt einer alten Frau, die am Rande eines verblichenen Sessels saß und mit großen, weit aufgerissenen Augen zum Fenster starrte. Mit ihren ungekämmten weißen Haaren und ihrer Hakennase sah sie wie ein Greifvogel aus, jederzeit bereit zum Sprung. Mit einer Hand umklammerte sie einen Spazierstock so fest, dass die dünne Haut, die ihre Fingergelenke überspannte, fast zu reißen drohte.

      »Zieh den Vorhang richtig zur Seite, Mabel. Ich will dem Regen zuschauen.«

      »Aber es gibt nichts Neues zu sehen, Mylady. Der Regen ist heute genauso …«

      »Tue gefälligst, was ich sage, Mädchen«, brüllte die alte Frau in einem Ton, den man bei ihrer zierlichen, gebrechlichen Gestalt nicht von ihr erwartet hätte. Mabel machte vor lauter Schreck einen Schritt nach hinten.

      »Selbstverständlich, Mylady«, stammelte sie, während sie mit beiden Händen die zwei Hälften des schweren Samtvorhangs zuerst zur einen, dann zur anderen Seite schob.

      »Warum muss ich dir jeden Tag erklären, dass ich dem Regen zuschauen will? Wofür bezahle ich euch überhaupt, bettelarm wie ich bin?«, klagte Lady Mattingley, als ob sie gleich in Tränen ausbrechen wollte.

      »Es tut mir leid, Mylady, ich habe nur gedacht …«

      »Ich will nicht wissen, was du nur gedacht hast. Hör auf, dich zu rechtfertigen. Verschwinde jetzt, sofort. Wer hat dich überhaupt hierherbestellt?«

      »Aber Sie doch, Mylady! Sie haben doch gerufen!«

      »Schluss jetzt!« Die alte Frau erhob sich zitternd und mit bedrohlicher Miene, mit beiden Händen auf den Knauf ihrer Krücke gestützt. Durch die dünne Haut über ihren Knöcheln war das Grau der Knochen sichtbar. Die Augen der Alten standen weit hervor und zeigten einen großen Teil der weißen Augenhaut, wenn sie aufgeregt war. Sie wirkte dann wie eine Schlange, die ihre Beute mit dem Blick fixiert, bevor sie sie verschlingt. »Und entferne dich gefälligst aus meinem Blickfeld!«

      »Sofort, Mylady!« Mit angsterfülltem Blick rannte das Mädchen aus dem Raum. »Sie rufen, wenn Sie noch etwas brauchen!«

      »Als ob ich jemals von dir irgendetwas gewollt hätte«, grummelte Lady Mattingley und ließ sich wieder in ihren Sessel fallen. In sich zusammengesunken, betrachtete sie den Regen, der immer heftiger gegen die Fensterscheiben peitschte. Schließlich fing sie an, an den Fingern aufzuzählen:

      »Eine Zofe, ein Kammerdiener, ein Butler, zwei Lakaien, ein Kutscher, ein Koch und vier Küchenmädchen, eine Haushälterin, zwei Gärtner … aber das war früher. Jetzt ist jetzt. Jetzt ist es anders.«

      Sie seufzte und legte ihre Hand wieder in den Schoß.

      Mabel stolperte die Steintreppe hinunter, die in das Untergeschoss des Hauses führte.

      »Faselt sie wieder?«, kam eine männliche Stimme aus der Küche, die Mabel nun betrat, völlig außer Atem. Hier in den unteren Räumen war das trübe Tageslicht noch nicht angekommen. An regnerischen Tagen war kein Unterschied zwischen Tag und Nacht zu merken.

      »Wann faselt sie nicht, Jason?«, antwortete Mabel. Ein warmes Licht strahlte vom Kamin in den Raum. Ein alter Mann beugte sich hinunter, um frische Kohle auf das Feuer zu legen. Er richtete sich mit einiger Mühe wieder auf, als Mabel die Küche betrat.

      »Und an diese Hexe soll ein Dienstmädchen sich gewöhnen? So ein Unsinn. Ihr Raum ist ein offenes Grab. Eine Leiche liegt darin, nur dass es keine herkömmliche Leiche ist, weil sie lebt, redet, schreit und um sich schlägt! Ohne dich wäre ich schon längst im Irrenhaus gelandet, Jason.«

      Jason wandte sich vom Kamin ab, strich ein paar graue Haarsträhnen aus seiner roten, von Schweiß bedeckten Stirn und schob ein paar weitere hinter die Ohren. Die auflodernden Flammen beleuchteten ein verwittertes Gesicht, dessen Furchen sich zusammenzogen und sich vertieften, als Mabel redete. Er seufzte.

      »So aufgebracht heute, Mabel? Du bist nicht das erste Dienstmädchen, das hier in den Irrsinn getrieben wird. Ich fürchte, auch nicht das letzte. Wenn dein Herz keine stählerne Hülle anlegen kann, dann geh weg, lieber früher als später. Auch wenn es mir sehr leidtun würde. Hatte gehofft, dass junges Blut etwas Leben ins Haus bringt.«

      Als Antwort lachte Mabel verbittert auf, sank in einen Stuhl und stützte die Ellbogen auf den Tisch.

      »Ach Jason«, stöhnte sie. »Wir halten ein Wesen am Leben, das schon längst unter die Erde gehört.«

      Jason legte voller Mitleid eine Hand auf ihre Schulter.

      »Komm, Mabel, so schlimm ist es nicht!«

      »Doch, es ist sogar noch schlimmer! Hast du gewusst, dass der Penninen Chronicle alle zwei Wochen einen neuen Nachruf für Lady Mattingley druckreif macht? Nur das Datum ändern sie, hat Mrs Womble gemeint. Ich musste sie heute schon wieder überzeugen, dass die alte Dame wirklich noch am Leben ist.«

      »Ach, es steckt mehr Leben in ihr, als man denkt, Mabel. Hier, ein Becher warme Milch für deine Nerven.«

      Er nahm einen Topf vom Feuer, füllte einen Becher und reichte ihn Mabel. Warme Milch war Jasons Antwort auf jede Art von Lebenskummer. Er hatte es von seiner Mutter gelernt, so erzählte er immer.

      »Zum Glück ist Mathilde noch nicht erschienen. Sie war gestern so schlecht bei Laune, dass ich sie schon früh auf ihr Zimmer geschickt habe. Hoffentlich schläft sie heute lange.«

      Mabel wärmte ihre Hände an dem Becher, bevor sie an der Milch nippte.

      »Schon gestern war Lady Harriet geplagter als sonst. Hat um die Wette getadelt, weil ich ihr die hellgrüne und nicht die blaue Bluse gebracht habe. Dann hat sie darüber geklagt, dass niemand glaubt, wie arm sie ist, dann wollte sie unbedingt Nicholas sehen.«

      Jason schmunzelte, als Mabel die kreischende Stimme der alten Herrin verblüffend genau nachahmte.

      »Und mein Sohn. Flüche auf den bösen Kerl. Lies mir etwas vor, Mabel, lies mir etwas vor. Ach, wie konnte ich vergessen, dass Dienstmädchen dämliche Gören sind, die den Unterschied zwischen a und b nicht wissen? Zofen und Butler sollte man haben. Aber die Männer, diese bösen Männer, sie haben mein Leben ruiniert. Warum kommt Nicholas nicht? Mabel, wann war er das letzte Mal da? Das ist sicher Wochen her? Er kommt bald wieder? Du lügst,

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