Flucht nach Mattingley Hall. Nicola Vollkommer
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Читать онлайн книгу Flucht nach Mattingley Hall - Nicola Vollkommer страница 2
Als er wenig später wieder an der Tür erschien, war die junge Frau im Begriff, die Haube unter ihrem Kinn festzubinden. Sie richtete sich auf, stellte sich stramm und blickte ihn ängstlich an. Er begutachtete sie von Kopf bis Fuß, presste seine Lippen zusammen und nickte. Danach legte er einen Umhang um ihre Schultern und zog dessen Kapuze über ihre Haube, fast bis zu ihren Augen herunter. In eine Hand nahm er eine große Ledertasche, die neben der Tür stand, mit der anderen Hand hakte er sich bei ihr unter und führte sie aus dem Zimmer. Schnellen Schrittes gingen sie eine Steintreppe hinunter, einen gefliesten Gang entlang und zu einer kleinen Tür hinaus, die in einen Hof führte. Eine Kutsche wartete. Pferde stampften. Im Licht einer einzigen Laterne war der Dampf aus ihren Nüstern sichtbar, der durch die Regenströme in die kalte Nachtluft emporstieg.
»Brrr, noch nicht losspringen!«, rief der Kutscher und zog die Zügel an.
Das laute Bellen eines Hundes war am anderen Ende des Hofes zu hören.
»Wir müssen uns beeilen, bevor das Tier die ganze Nachbarschaft alarmiert«, rief der Mann zum Kutscher. Er wandte sich noch mal der jungen Frau zu.
»Deine Hauptaufgabe, mein Kind, ist es ab jetzt, unauffällig zu bleiben und dich im Hintergrund zu halten, wo auch immer du dich befindest. Ich weiß, das bist du nicht gewohnt, aber jetzt hast du keine andere Wahl.«
Er blickte kurz um sich, schob die Tasche mit beiden Händen durch die Tür der Kutsche und trat zur Seite, damit die junge Frau einsteigen konnte. Sie zögerte, drehte sich um, warf ihre Arme um seinen Hals, klammerte sich an ihn und grub ihr Gesicht in seinen inzwischen nass gewordenen Gehrock.
»Ich habe solche Angst, schreckliche Angst«, platzte es aus ihr heraus. Ihre Stimme war tränenerstickt. »Warum durfte ich mich nicht einmal verabschieden? Ein letztes Mal.«
Er hielt sie einen Augenblick lang fest.
»Ruhig, meine Liebe«, flüsterte er. »Es hätte dich nur in weitere Gefahr gebracht. Ich schaue nach ihm. Er schläft. Diese zerrissene Welt schwebt inzwischen an ihm vorbei. Bald ist sie für ihn nur noch ein ferner Schatten. Ich bin jetzt für dich verantwortlich, warst du doch immer wie eine Tochter für mich. Du musst jetzt tapfer sein. Richte deine Aufmerksamkeit auf die Aufgaben, die auf dich warten. Sag mir noch einmal: Auf was musst du achten?«
»Nützlich sein, damit meine Gebieterin nicht mehr ohne mich auskommt. Bescheiden, damit die anderen Bediensteten nicht neidisch werden. In einfachen Sätzen sprechen, damit mich niemand durchschaut. Immer auf der Hut sein. Das Haus niemals verlassen, ohne zu jeder Zeit zu wissen, wer hinter mir, neben mir, vor mir läuft. Nicht einmal die Vögel auf dem Dach dürfen ahnen, woher ich komme und wer ich bin.«
»Das reicht«, unterbrach er sie. »Gut gelernt. Wenn wir den Gerüchten Glauben schenken dürfen, dann ist deine neue Herrin so irrsinnig, dass ihr nicht auffällt, dass deine Hände für eine Dame im Dienst zu weich sind und deine Rede zu vornehm ist. Aber die anderen Bediensteten sind leider nicht irrsinnig. Vor ihnen musst du dich in Acht nehmen. Doch jetzt ab in die Kutsche. Ich übergebe dich der Obhut der schnellsten Pferde, der wendigsten Kutsche und des geschicktesten Fahrers in ganz England! Einen Korb mit Proviant findest du neben dem Fenster.«
Ein letztes Mal drückte er ihren Kopf an seine Brust, küsste sie auf ihre Kapuze und half ihr die kleine Treppe zur Tür der Kutsche hinauf. Er wartete, bis sie sich hingesetzt hatte, dann drückte er die Tür zu und rief dem Kutscher zu: »Los!«
Lange noch nachdem die Kutsche in die dunkle Nacht verschwunden war und das Rattern der Räder und das Spritzen der Pfützen nicht mehr zu hören waren, blieb er in Gedanken versunken auf der Straße stehen.
»Der liebe Gott bewahre dich, mein Kind!«, murmelte er. »Hoffen wir, dass wir dich nicht erst recht in dein Verderben geschickt haben.«
Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel und ging, bis auf die Haut durchnässt, langsam und mit gebeugtem Kopf zurück ins Haus.
1
»Sieh mal einer an.«
Ein gut gebauter Herr stieß mit seinem Zeigefinger auf die Zeitung, die ausgebreitet auf dem Tisch lag, daneben eine Kerze. Er schob das Blatt mitsamt der Kerze zu dem Herrn hinüber, der ihm gegenübersaß. Dieser beugte sich über das Papier und schob seine Brille, die ihm immer wieder von der Nase rutschte, wieder hoch. Mit zusammengepressten Augen versuchte er, in dem trüben Licht der Kerze die Worte zu entziffern.
Es herrschte Feierabendstimmung in dem beliebten Londoner Wirtshaus »Kingston Arms«. Männer aus allen Gesellschaftsschichten hatten in der warmen Stube Zuflucht vor dem frostigen Januarwind gesucht, der heftige Schwalle von Eisregen durch die kalten Straßen trieb. Ein dichter Zigarrenqualm-Nebel hing unter den dicken Balken einer tief hängenden Decke, sodass das Licht der Öllampen nur schwer durchdringen konnte. Der Geruch von Zigarren, vermischt mit dem Gestank von abgestandenem Bier und verbrauchter Luft, durchzog den muffigen Raum. Die Besucher des Gasthauses schienen sich aber nicht daran zu stören. Jeder Tisch war besetzt, lautes Gelächter ertönte aus den hinteren Winkeln des Raums, wo einfache Büromitarbeiter und Schriftführer Karten spielten und gelegentlich einen neidischen Blick zu den Tischen warfen, an denen die vornehmeren Herren ihre Zigarrenschachteln herumreichten.
»Seit wann lesen Sie die Hofnachrichten, Mr Beechwood?«, fragte der Herr mit der Brille, der das Blatt immer noch von unten nach oben mit suchendem Blick betrachtete. »Haben Sie Langeweile, seitdem Monsieur Bonaparte auf Sankt Helena verbannt ist und auf den Schlachtfeldern Europas wieder Weizen und Gerste angepflanzt werden?«
»Ach, warten wir mal ab, das kann sich schnell ändern. Als er nach Elba verbannt wurde, währte unser Glück auch nur kurz. Es würde mich nicht wundern, wenn er plötzlich wieder in voller militärischer Montur vor uns stehen und erneut den Krieg erklären würde.«
Anstatt zu antworten, holte Mr Sandford ein Vergrößerungsglas aus seiner Hosentasche, schob seine Brille wieder hoch und überprüfte das Blatt noch einmal.
»Zum Glück sitzt König Louis wieder fest im Sattel. Vive le roi! Aber Sie haben mir immer noch nicht verraten, warum Sie die Hofnachrichten lesen.«
Mr Beechwood zog langsam an seiner Zigarre und verfolgte mit seinen Augen die Rauchsäule, die zur Decke hochstieg, bis sie sich schließlich in dem gelblichen Dunst auflöste, der unter den Lampen hing.
»Ich lese sie nur, wenn ein Name, der Ihnen und mir mehr als bekannt ist, aus den Meldungen heraussticht, Sandford.«
Mr Sandford richtete sich auf, blickte seinen Freund mit großen Augen an und stieß einen langsamen Pfiff aus.
»Mich trifft der Schlag. Der Fang des Jahrhunderts. Da fällt mir nichts mehr ein.«
Mr Beechwood lachte laut.
»Na, ein Skandal, bei dem es sogar Ihnen die Sprache verschlägt, das will was heißen«, bemerkte er trocken. »Hier, eine Zigarre, damit Sie die Nachricht besser verkraften. Lesen Sie den ganzen Abschnitt.«
Das Gelächter um die Kartentische wurde lauter, die Schritte der Kellner hektischer, das Bier floss schneller, und die beiden Herren bliesen Rauchwolken in die Luft. Mr Sandford legte