Flucht nach Mattingley Hall. Nicola Vollkommer
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Читать онлайн книгу Flucht nach Mattingley Hall - Nicola Vollkommer страница 6
Er blieb am Eingang eines unscheinbaren Gasthauses stehen und warf einen Blick auf die Uhr an dem Kirchturm auf der anderen Straßenseite, bevor er das Haus betrat.
»›Der Pflug und der Karren‹, lustiger Name für eine Schenke mitten in einem brodelnden Handelsviertel. Wie die Zeiten sich ändern«, dachte er beiläufig. »Vermutlich ein Überbleibsel aus der Zeit, in der von Schlamm und Kuhfladen verkrustete Bauernstiefel hier ein und aus gingen und nicht die feinen, auf Hochglanz polierten Lederstiefel der Gentlemen von den Börsen und den Kolonialverwaltungen Londons.«
Noch bevor sich seine Augen an den dämmerigen Raum gewöhnt hatten, trat ein älterer Mann mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. Er trug einen Gehrock aus feiner Wolle, darunter eine Samtweste, aus deren Tasche eine Uhr an einer edlen Goldkette hing. Er war groß genug, um Mr Argyle auf Augenhöhe zu begegnen. Silberne Strähnen in seinem ergrauenden dunklen Haar verrieten jedoch, dass er seine besten Jahre schon hinter sich hatte.
»Mr Hubertus Argyle! Pünktlich wie die Uhr! Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Sie haben hoffentlich dafür Verständnis, dass ich Sie in dieses bescheidene Gasthaus gebeten habe, ohne Prunk und Dienerschaft, anstatt im angemessenen Stil in den ›Gentleman’s Club‹ in Mayfair? Ich wollte für diese Unterhaltung die Öffentlichkeit vermeiden.«
Mr Argyle nahm seinen Zylinder ab und verbeugte sich, bevor er die ausgestreckte Hand des älteren Mannes in seine beiden Hände nahm und sie herzlich drückte.
»Die Ehre ist ganz auf meiner Seite, Lord Medway. Sie sind viel zu gütig. Sie vergessen, dass ich in den bürgerlichen Gaststätten Londons sehr zu Hause bin.«
»Wer Sie kennt, würde nie auf den Gedanken kommen, dass Sie nicht in den vornehmsten Häusern Londons groß geworden wären, Mr Argyle. Ein makelloses Auftreten in jeder Hinsicht. Meine Komplimente.«
Lord Devreux führte den jüngeren Herrn zu zwei Ledersesseln, die sich an einem niedrigen Tisch in der Ecke des Raumes befanden, und bedeutete ihm, Platz zu nehmen. Er setzte sich ihm gegenüber. Nachdem er eine Kanne Kaffee bestellt hatte, beugte er sich nach vorne und starrte auf den Tisch. Einige Augenblicke lang fuhr er mit dem Zeigefinger über die Ritzen des alten Eichenholzes und schien in Gedanken versunken zu sein. Schließlich legte er die Fingerspitzen beider Hände aneinander und seufzte.
»Sie sind nachdenklich, Mylord«, sagte Mr Argyle. »Sind die Festlichkeiten gestern nicht zu Ihrer Zufriedenheit verlaufen? Sie haben sich früh zurückgezogen. Sie haben das Feuerwerk verpasst.«
»Das Fest hat mich vollkommen zufriedengestellt, Sir. Ich war nur etwas müde«, antwortete der ältere Mann. Er hob seinen Kopf und blickte Mr Argyle an. »Im Gegenteil. Das hervorragende Niveau der Feierlichkeiten, die Sie uns zu Ehren veranstaltet haben, überzeugen mich ein für alle Mal, dass meine Tochter sich hier in London in Kreisen bewegen wird, die ihrem Stand und ihren Lebensgewohnheiten entsprechen.«
Mr Argyle setzte an, um ihn zu unterbrechen, aber Lord Medway hielt eine Hand hoch, um ihn zu bremsen.
»Ich bin noch nicht fertig, Sir. Ihre Eltern, mögen sie in Frieden ruhen, wären stolz auf Sie, Mr Argyle. Die Adligen jammern, dass meine Tochter unter ihrem Stand heiraten will, aber ich sehe das anders. Wir, die wir in den Adel hineingeboren wurden, haben Reichtum durch Glück und Zufall geerbt. Sie haben sich Ihren Reichtum erarbeitet und verdient. Ich gratuliere Ihnen.«
Mr Argyle lehnte sich mit einem Lächeln in seinen Sessel zurück und verschränkte seine Arme. Er blickte Lord Medway mit seinen durchdringenden dunklen Augen an.
»Sie sind zu freundlich, Mylord. Ich habe vom Vermächtnis eines hart arbeitenden Vaters profitiert. Nichtsdestotrotz: Nichts könnte mir in so einem Moment wie diesem mehr Freude machen, als zu wissen, dass ich Ihr Vertrauen gewinnen konnte. Schon bei meiner ersten Begegnung mit Ihrer Tochter wusste ich, dass ich nie für eine andere Frau Augen haben würde. Dieses Gefühl ist in den Monaten seit jener Begegnung stetig gewachsen. Bis zu dem Zeitpunkt, als ich Ihre Tochter kennenlernte, hielt ich mich für einen besonnenen Menschen. Aber für die Gefühle, die jetzt in meinem Herzen toben, fehlen mir, dem erfahrenen Berichterstatter, jegliche Worte!«
Seine Sprache war leidenschaftlich. Er schüttelte den Kopf und suchte ratlos nach Begriffen, die seine Empfindungen gebührend beschreiben konnten.
»Sie brauchen mich von Ihrer Liebe für meine Tochter nicht zu überzeugen, Mr Argyle. Aber Sie sollten wissen … es ist Ihnen gewiss schon aufgefallen …, dass Lady Jasmin nicht allzu weltgewandt ist. Sie ist liebenswürdig, aber nicht tiefschürfend in ihrer Denkweise. Gefühlvoll, manchmal fahrlässig. Die Sorgen, die uns, ihren Eltern, der Verlust unseres Säuglings und die darauffolgende lange Krankheit meiner Frau aufgebürdet haben, haben wenig Zeit gelassen für die gründliche Erziehung, die wir für unsere Tochter vorgesehen hatten. Sie besitzt keine der Fertigkeiten, derer sich die Damen Londons rühmen: Klavierspielen, Malen, Sticken, Grundkenntnisse in Geschichte, Politik, Kunst, Sprachen und Literatur. Das Einzige, was sie als Kind interessiert hat, war der Garten.«
Er schmunzelte und schüttelte den Kopf.
»Sie konnte beim besten Willen nicht verstehen, warum sie nicht Gärtnerin werden darf. Aber sie ist formbar und willig, und ich bin sicher, dass sie durch die Begleitung eines fürsorglichen Ehemannes zu einer belastbaren Persönlichkeit heranreifen wird. Außerdem ist sie außerordentlich feinfühlig. Sie ist mit ihren zwanzig Jahren noch ein Kind. Aber sie ist das Kostbarste, was ich habe.«
»Ich werde dafür sorgen, Mylord, dass die Schönheit Ihrer Tochter binnen kurzer Zeit durch Charakterstärke bereichert wird. Fertigkeiten kann man lernen, Wissen kann man sich aneignen. Ich trat in ihr Leben als Beschützer und Tröster hinein, und ich werde ihr Beschützer und Tröster bleiben. Ihr Leben lang, Mylord.«
»Ein Schuss Milch in Ihren Kaffee, meine Herren?«
»Danke, Herr Wirt«, antwortete Lord Medway, der seine Tasse noch nicht angerührt hatte. Offensichtlich hatte er etwas auf dem Herzen, was er loswerden wollte. Er zog das Taschentuch hervor, dessen Zipfel aus seiner Westentasche herauslugte, und tupfte ein Auge ab, das feucht geworden war.
»Ich habe meine Gründe, Sie zu diesem Zeitpunkt aufzusuchen, Mr Argyle«, sagte er schließlich und steckte das Tuch wieder in die Tasche.
Der jüngere Mann schaute ihn mit einem fragenden Blick an.
»Hat es wieder Unruhen in den Fabriken in Yorkshire gegeben, Mylord?«
Lord Medway winkte ab.
»Und wenn, das würde uns in Kebworth keineswegs in Sorge bringen«, antwortete er.
Er hob seine Kaffeetasse an den Mund und nahm einen langen Schluck. Erst als er die Tasse wieder auf die Untertasse gestellt hatte, redete er weiter.
»Vorgestern, als die Vorbereitungen auf das Verlobungsfest in vollem Gange waren, hatte ich eine Unterredung mit meinem Arzt.«
Er zögerte. Mr Argyle zog die Augenbrauen zusammen.
»Ein Verdacht, der mich seit Längerem plagt, wurde bestätigt«, fuhr der ältere Herr fort. Er holte tief Luft, hob seinen Kopf und blickte Mr Argyle in die Augen.
»Kurz gesagt,