Flucht nach Mattingley Hall. Nicola Vollkommer
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Flucht nach Mattingley Hall - Nicola Vollkommer страница 9
Ein lautes Bellen draußen unterbrach ihre Lektüre.
»Hey, Julius! Hierher! Komm hoch!«
Sie drehte sich wieder zum Fenster und klatschte in die Hände.
»Bring Vater gleich mit!«
Ein riesiger Jagdhund sprang um die Ecke auf den Rasen. Ein Bediensteter hechelte ihm hinterher.
»Gilbert!«, rief Jasmin hinunter. »Ich dachte, Vater wollte heute ausreiten und Julius mitnehmen!«
»Wollte er, Mylady«, rief Gilbert hoch, »aber er hat über Müdigkeit geklagt. Ich habe Mrs Simmons in seinem Auftrag die Medikamente gebracht!«
»Das hätte er dir von vornherein auftragen sollen. Was hat Vater bloß bei der alten Mrs Simmons zu suchen, wenn sie krank ist? Er könnte sich doch anstecken, so anfällig wie er für jede kleine Grippe ist!«
»Er besteht darauf, Mylady!«
Kratzgeräusche vom anderen Ende des Zimmers zogen Jasmin vom Fenster weg. Sie öffnete die Tür, und der große Hund sprang ihr freudig in die Arme, leckte ihr Gesicht und wedelte energisch mit dem Schwanz.
»Boah, Julius! Runter mit dir! Du begrüßt mich, als ob ich gerade von London zurückgekommen wäre, dabei bin ich schon vier Monate wieder zu Hause! So scharf, wie deine Nase ist, könntest du mich sogar von London aus wittern, nicht wahr?«
Sie kraulte seine Ohren, rieb seine Schnauze und deutete auf seinen Platz unter ihrem Schreibtisch. Danach ließ sie sich in ihrem Sessel nieder und griff wieder nach dem Brief.
Bei jeder Abendgesellschaft fliegst du mitten in meine Gedanken hinein, und alle Köpfe drehen sich nach mir um und beneiden mich um mein Glück. Ich werde stolz auf dich sein. Um dich zu lieben, braucht ein Mann nicht viel an Vorstellungskraft.
Du schreibst, dass du befürchtest, mit den Gesellschaftsdamen Londons nicht mithalten zu können und dass deine ländlichen Sitten auffallen werden. Da muss ich laut lachen, meine Liebe! Gerade deine mädchenhafte Bescheidenheit macht dich unwiderstehlich.
»Das würde Ellen aber anders sehen«, murmelte Jasmin beim Lesen.
Du vergisst, dass ich derjenige bin, der Angst wegen meines Ansehens haben muss. Ich bin hier der Aufsteiger, der fürchten muss, dir und der feinen Gesellschaft nicht ebenbürtig zu sein. Und dass du weder Klavier spielst noch singen noch Gedichte verfassen kannst, stört mich nicht im Geringsten. Künstlerische Fertigkeiten sind nicht das, was ich in einer Frau suche, sondern Witz, Charme, Anhänglichkeit, Belehrbarkeit, Warmherzigkeit, Schönheit. Und diese Eigenschaften besitzt du in Fülle. Nach Kebworth werden wir reisen, so oft du möchtest. Und wenn Kebworth unser Hauptsitz werden soll, dann sei es so. Wir leben dort, wo du leben möchtest. Die Geschäfte hier in London laufen immer besser, auch ohne mich, sodass ich beweglicher bin und mehr Zeit für Muße habe.
Jasmin faltete den Briefbogen zusammen, lehnte sich in ihrem Sessel zurück und ließ Bilder durch ihren Kopf treiben. War es wirklich mehr als ein Jahr her?
Hubertus Argyle, der junge Berichterstatter des damals unbekannten Blattes Argyle & Johnson, war in dem ländlichen, abgelegenen Dorf von Thistle Grove aufgetaucht – und hatte ihr Leben im Handumdrehen auf den Kopf gestellt. Ein Leben ohne ihn war seitdem undenkbar geworden. Was hatte sie in ihrem Leben überhaupt gemacht, bevor er jeden Gedanken in ihrem Kopf im Sturm erobert hatte? Womit hatte sie ihre Tage gefüllt?
Welche düsteren Töne lese ich aus deinen Zeilen heraus?, las sie nun weiter.
Ich hätte dir gar nicht erzählen sollen, dass der berüchtigte Marvin Fellham wieder zugeschlagen hat. Das darf deinen hübschen Kopf nicht belasten. Diesen Schurken haben wir bald hinter Gittern. Ich freue mich auf den Tag, an dem Argyle & Johnson als erste Zeitung berichtet, wie dieser Mörder zum Galgen marschiert. Eine griffige Schlagzeile dazu habe ich schon als Entwurf in meinem Kopf.
Jasmin hörte auf zu lesen. Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken. Julius knurrte und schlich sich auf allen vieren zu dem Sessel hin, in dem seine Herrin saß. Er drückte seine Schnauze an ihre Knie und blickte ihr ins Gesicht. Jasmin kraulte seine Ohren und lachte.
»Es ist, als wenn du meine Gedanken lesen könntest, du alter Bengel«, sagte sie. »Aber irgendwann freundest du dich mit meinem Verlobten auch noch an und lernst, nicht jedes Mal wenn ein Brief kommt, so eifersüchtig zu sein.«
Julius klopfte mit dem Schwanz auf den Teppich, hechelte und legte sich auf Jasmins Füße.
»Aber ich weiß, du meinst es ja nur gut«, fügte sie hinzu. Ihr Herz schlug höher, als Hubertus’ Beteuerungen seiner Leidenschaft für sie immer detaillierter wurden. Er, ein weltgewandter, bodenständiger Geschäftsmann des Londoner Presseviertels, verwandle sich in eine weiche Turteltaube, wann immer er an sie denke, schrieb er. In ihrer Fantasie fühlte sie wieder seine starken Arme um ihren Körper, drückte ihr Gesicht gegen seine warme Brust, hörte seinen Herzschlag und spürte seine sanften Finger in ihren Haaren. Männlichkeit verbunden mit Zärtlichkeit. So hatte er ihr Herz gefangen genommen, so würde er weiterhin ihr Herz erobern. Der Brief duftete nach Pomade.
Ihre Träume wurden von Tritten auf der Treppe im Gang unterbrochen. Jemand klopfte an die Tür. Julius sprang auf und bellte. Es war Ellen mit dem Nachmittagstee.
»Na, gute Nachrichten aus London?«, fragte sie, nachdem sie das Tablett mit der Tasse auf den Tisch gestellt und den Tee eingegossen hatte.
»Immer noch so neugierig, Ellen? Nachrichten aus London sind immer gut. Erzähl du mir lieber von Mrs Simmons, außer wenn du etwas Interessanteres hast. Gilbert war bei ihr. Eigentlich müsste es reichen, wenn Nancy nach ihr schaut. Ich bin nur froh, dass Vater sich davon abbringen ließ. Er wirkt in letzter Zeit müde und hustet immer.«
Ellen sagte nichts. Julius wimmerte, während sie einen Schuss Milch in den Tee goss.
»Mrs Simmons’ Zustand ist unverändert, Jasmin. Gilbert meint, ihre vergesslichen Phasen werden länger. Ich vermute, es ist eine Art Flucht. Die arme Frau macht sich nach wie vor Vorwürfe wegen deiner lieben Mutter – möge sie in Frieden ruhen.«
»Vergesslich geworden?«, warf Jasmin ein. »Ich wette, sie plaudert trotzdem ununterbrochen. An Gesprächsstoff mangelt es ihr gewiss nicht.«
Ellen gab einen Zuckerwürfel in die Tasse und rührte mit einem kleinen Silberlöffel in dem Tee.
»Urteile nicht so hart, Jasmin. Ein kurzer Augenblick der Unachtsamkeit und es war geschehen, deine Mutter war davongelaufen. Ich befürchte, Mrs Simmons wird nie darüber hinwegkommen.«
Jasmin nahm die zierliche Tasse an ihren Mund und nippte an dem Tee.
»Soll sie auch nicht. Eine Zofe ist dazu da, ihre Herrin zu versorgen. Das war Pflichtunterlassung höchsten Grades.«
»Fang nicht damit wieder an, Jasmin. Deine Vorwürfe sind nicht gerecht. Falls deine Mutter sich wirklich das Leben nehmen wollte, dann hätte auch die aufmerksamste Zofe sie nicht daran gehindert. Sie ist nicht die erste und wird auch nicht die letzte Frau sein, die auch Jahre nach dem Verlust eines Säuglings um ihren Verstand kommt. Sie hatte alles darauf gesetzt, deinem Vater doch noch einen Sohn zu schenken. Und was Mrs Simmons betrifft: Als ob sie nicht schon genug unter ihren eigenen Vorwürfen gelitten