Flucht nach Mattingley Hall. Nicola Vollkommer
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Читать онлайн книгу Flucht nach Mattingley Hall - Nicola Vollkommer страница 8
»Hier, ein Taschentuch. Dein Gesicht ist glühend heiß. Es ist sicher die Aufregung von den Festlichkeiten oder die Aussicht auf die kommenden Umbrüche, was dich plagt!«
Jasmin wischte ihr feuchtes Gesicht mit dem Tuch, das Ellen ihr gereicht hatte, und schnäuzte sich. Ihre Tränen ließen nach.
»Woher kommen die Bilder bloß? Ich war doch nicht dabei, als es geschah. Aber ich sehe meine Mutter vor mir, echter als im wahren Leben. Schwere Wolken jagen vor dem hellen Mond vorbei. Der Wind pfeift eiskalt über den Wald. Ich sehe ihren erschrockenen Gesichtsausdruck, ihre wilden Augen, ihre Haare, die zerzaust und ungekämmt um ihr Gesicht fliegen. Das weiße Nachthemd mit dem gelben Blumenmuster am Saum flattert um ihre Beine. Ich höre das Krachen der Äste, ich höre ihre Stimme. Sie schreit: ›Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben!‹ Und das Allerschlimmste, Ellen …«
»Was ist das Allerschlimmste, mein Kind?«
Ellen küsste Jasmin sanft auf die feuchte Wange.
»Das Allerschlimmste ist, dass sie jedes Mal meinen Namen ruft. Ich versuche, zu ihr zu gelangen, ich strecke meine Hand zu ihr aus. Und gerade als ich sie erreiche, ist sie fort. Ich rufe nach ihr, und sie antwortet nicht. Ich höre nur das Plätschern des Wassers auf den Felsen unten am Flussufer. Und dann sehe ich eine menschliche Gestalt, das Gesicht nach unten, sie dreht sich im Wasserstrudel, ihr Nachthemd bläht sich auf um sie herum …«
Sie erschauderte. Eine plötzliche Windstille unterbrach das Toben des Sturms.
»Pssst, ruhig, mein Kind«, flüsterte Ellen, die immer noch eifrig versuchte, lose dunkelblonde Strähnen aus Jasmins Gesicht zu streichen.
»Ellen, meine Träume sind echter als das Leben selber. Ich fühle tiefer, ich heule lauter. Die Farben sind greller, die Stimmen schärfer, die Sonne heißer, der Winter kälter. Als ob dieses Leben der Traum wäre, und meine Träume das eigentliche Leben.«
»Weiß Mr Argyle von den Albträumen, die dich plagen, meine Liebe?«
Jasmin wandte ihr Gesicht von Ellen weg und blickte auf die schwarzen Wolkenfetzen, die über den grauen Himmel huschten. Eine Windböe versetzte der Kutsche einen plötzlichen Stoß. Adam, der Kutscher, schimpfte laut, eins der Pferde sprang auf und wieherte. Ellen packte Jasmins Arm und hielt sie fest, bis die Kutsche aufgehört hatte, hin und her zu schaukeln.
»Ich habe es immer wieder versucht«, sagte Jasmin. »Aber du sollst wissen, wir waren nicht oft zusammen. Ich meine, nicht oft alleine. Einmal habe ich angefangen, von meinen Träumen zu reden.«
»Und? Was hat er dazu gesagt?«
Jasmin zögerte.
»Ich bin nicht weit gekommen«, sagte sie. »Er hat mich in den Arm genommen, geküsst, gesagt, wie bezaubert er von meinem perlenden Lachen sei, von meiner Ausstrahlung und meinen Grübchen, von meinen weichen Locken. Sobald er anfängt, mich mit den großen, dunklen, männlichen Augen anzulächeln, weiß ich, dass alles gut werden muss! Wie beim ersten Mal, als wir uns begegnet sind. Es ist, als ob er alles schon wüsste, was mich in den Nachtstunden plagt. Ich habe das Gefühl, ich muss ihm nichts erzählen. Wann immer ich in seiner Nähe bin, verschwinden die Bilder, die Erinnerung an die Träume ist wie ausgelöscht. Wenn ich mit ihm verheiratet bin und er immer bei mir ist, dann kommen sie sicher nicht mehr vor.«
Ellen schwieg eine Weile.
»Dass seine Nähe so eine beruhigende Auswirkung auf deine Seele hat, muss etwas Gutes sein«, sagte sie schließlich. »Schau, das Schild mit ›Thistle Grove‹ neben der Weißdornhecke. Gerade noch in der Dämmerung sichtbar. Bald sind wir zu Hause!«
Meine bezaubernde Jasmin!
Wie oft habe ich deine lieben Zeilen gelesen! Heute, gestern, vorgestern. Und an all den Tagen, die seit der Ankunft deines Briefes verflossen sind. Jedes Wort hat sich in meiner Seele eingenistet. Verzeih mir bitte, dass ich erst heute eine Antwort verfasse. Ich wollte mir für eine so wichtige Aufgabe die Zeit nehmen, die deiner lieben Worte würdig ist. Deinen Brief habe ich überallhin mitgenommen. Ich habe ihn in die Brusttasche meiner Weste geschoben, denn an meiner Brust kann er jeden Herzschlag hören. Es war mir, als ob dein süßer Kopf dort liegen würde – dort, wo er hingehört und wo er in Bälde jede Nacht liegen wird. Wie sehr zähle ich die Monate, Wochen, Stunden, bald die Minuten! Die Wochen unserer Trennung kommen mir viel zu lang vor.
Jasmin errötete und seufzte. Sie legte den Briefbogen auf die Lehne ihres Sessels, erhob sich und ging zum Fenster, das in der warmen Frühlingssonne offen stand. Sie lehnte sich hinaus, stützte ihre Arme auf den Fenstersims und hielt ihr Gesicht in die Sonnenstrahlen, die durch die Blüten der Kastanienbäume hindurch einen goldenen Schimmer auf die hellbraunen Steine des Herrenhauses warfen. Schwalben schossen durch den blauen Himmel, Enten schnatterten im Teich unter den Bäumen. Der Frühling war in voller Blüte. Fliedersträucher, weiß und lila, füllten die Luft mit ihrem schweren Duft, und der Löwenzahn schleuderte mit jedem Windstoß kleine Fallschirme durch die Felder. Überall schimmerte das Scharbockskraut in den Gräben gelb, die Kirschbäume verstreuten weiße Blüten, die Amseln sangen ihr Jubellied, die ganze Schöpfung erwachte zu neuem Leben.
»Wo ich auch hinschaue, der Anblick ist ein Gedicht!«, sagte Jasmin laut zu sich selber.
Kebworth Place mit seinen warmen, hellbraunen Mauern, seinen ausgedehnten Außen- und Nebengebäuden, seinem Park und seinen Feldern galt in der Tat als Kleinod unter den Herrenhäusern des Adels in Nordengland, war aber kein Prunkstück. Zwei bescheidene Stockwerke ließen es eher wie ein großes Gutshaus aussehen als wie ein Schloss. Mit seinem Vermögen hätte Lord Devreux das fürstliche Chatsworth House mehr als dreimal übertreffen können, meinten benachbarte Gutsbesitzer, die über Lord Medways anspruchslosen Lebensstil gerne und oft lästerten. Die Familie Devreux besaß in der Tat keine unschätzbaren Rembrandt-Gemälde, keine exotischen Springbrunnen oder prunkvollen Ballsäle, mit denen sie hätten prahlen können, auch wenn diese Statussymbole für sie mehr als standesgemäß gewesen wären. Die Dienerschaft war klein und ihr Lord dafür bekannt, lieber Jugendlichen aus den Dörfern in der Ernte- und in der Lammungszeit Arbeit zu verschaffen, als einen fürstlichen Haushalt nur mit dem Ziel zu führen, andere Menschen zu beeindrucken. Böse Zungen behaupteten daher seit Jahrzehnten, der Lord sei in Wahrheit auf dürre Zeiten gestoßen, wolle dies aber nicht offen zugeben.
»Zufriedene Pächter sind das kostbarste Gut, das ein Gutsbesitzer vorzeigen kann«, sagte Lord Medway in aller Gelassenheit, wenn er schon wieder gefragt worden war, ob er nicht etwas von seinem Vermögen in diese oder jene teure zeitgemäße Anschaffung investieren wolle. Seine Bauersleute seien nach den langen Kriegen gebeutelt genug, war stets seine Antwort. Lieber sorge er dafür, dass ihre Dächer in den Winterstürmen dicht blieben und ihre Wände keinen Schimmel hätten, als dass er sein Haus mit Samt und Gold ausstattete.
In Grübeleien versunken, streichelte Jasmin nun den Stein des Fenstersimses mit einem Zeigefinger.
»Ich werde jeden Stein von dir vermissen, mein liebes Kebworth«, flüsterte sie. »In London saugen die Steine Staub und Rauch aus der Luft auf und werden im Nu grau und farblos. Backsteinmauern, die früher rot waren. Hier saugen die Steine pure Sonne und schimmern einladend warm. Je älter sie werden, desto mehr schmiegen sie sich in die Landschaft, als ob sie mit den Pflanzen zusammen aus dem Boden gesprossen wären. Wenn ich euch nur mitnehmen könnte!«
Sie tätschelte den Fenstersims mit einer Hand, seufzte und widmete