Flucht nach Mattingley Hall. Nicola Vollkommer
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Читать онлайн книгу Flucht nach Mattingley Hall - Nicola Vollkommer страница 3
»Sind Sie der Einzige, dem nicht aufgefallen ist, dass die Zeiten sich ändern, Mr Sandford? Adel trifft auf Neureich. Und einem Neureichen, der das Glück und das Geschick eines Mr Hubertus Argyle besitzt, stehen alle Türen offen, blaues Blut hin oder her. Seit eh und je ist er ein Charmeur, der so tut, als gehöre er dem Adel an. Ein Gentleman des Mittelstandes, der nur auf seinen Titel wartet. Falls rotes Blut sich irgendwo in blaues Blut verwandeln kann, dann in seinen Adern.«
Mr Sandford nickte.
»In der Tat. Ich sah ihn gestern in der Fleet Street aus der Kutsche steigen und dachte so bei mir: Unter den dunklen Locken schaut eine ernsthafte Miene hervor, die nach Respekt verlangt. Offensichtlich hat er nicht nur dieses strahlende Lächeln, mit dem er sein ganzes Umfeld erobert und alle Damenherzen schmelzen lässt. Wie macht er das bloß? Er hat Anstand und Manieren, läuft aufrecht wie ein Baumstamm. In ihm wird sich bald das Beste aus beiden Welten verbinden, wenn Sie mich fragen. Ganz der Bourgeois wie auch ganz der Fürst.«
»Solche Lobeshymnen aus Ihrem Mund, Sandford?«
Mr Beechwood winkte den Kellner herbei.
»Ein Whisky, um den Abend ausklingen zu lassen?«
»Um diese Nachricht zu verdauen, braucht ein Mann zwei Whiskys, Beechwood!«.
Die Nachricht sorgte reichlich für Gespräche. Lady Jasmin Devreux, einzige Tochter und alleinige Erbin von Lord Medway Devreux, Herr von Kebworth Place in Yorkshire, hatte sich verlobt mit Mr Hubertus Argyle, Erbe des verstorbenen Gründers des schnell wachsenden Londoner Tageblattes Argyle & Johnson. Ob Lord Medway noch bei Sinnen sei, fragten sich die vornehmen Damen, die sich nachmittags zum Afternoon Tea im Claridge-Hotel trafen. Was dem alten Adligen nur einfalle, seine Linie so zu verseuchen, wunderten sich kopfschüttelnd die Barone, die einen ausgedehnten Winterurlaub in London verbrachten, bevor die nächste Jagdsaison in den herrschaftlichen Landhäusern eingeläutet wurde. Allerdings, so rein sei das Blut der Familie Devreux doch nicht, bemerkten andere. Immerhin stamme die Familie ursprünglich aus dem französischen Adel und man wisse ja nur zu gut, wozu Franzosen in der Lage seien. Ob blaues Blut sich überhaupt mit dem gemeinen Blut eines ehrgeizigen Aufsteigers vermischen ließe, murmelten die Dienstmädchen in den Küchen der Stadtvillen von Mayfair. Ob der Nachwuchs aus so einer Verbindung adelig oder bäuerlich aussehen würde, fragte ein Lampenanzünder einen anderen, als die beiden Männer sich am frühen Abend aufmachten, um die Park Lane und die Oxford Street für die lange Winternacht zu beleuchten. Der zweite fügte hinzu, es sei doch eine erfreuliche Abwechslung, endlich über interessantere Dinge zu plaudern als die Schlacht von Waterloo und die neuesten Eskapaden jener dämlichen Franzosen. Die Frauen auf dem Markt von Croydon seufzten, dass die dunklen Locken und die betörenden Augen eines Mr Hubertus Argyle – gesellschaftlicher Stand hin oder her – sogar das Herz einer Prinzessin zum Schmelzen brächten.
Die glückliche Auserwählte selber schwebte zu sehr im Liebesrausch, um wahrzunehmen, was für ein fieberhaftes Aufheben um ihre Person auf den Straßen und in den Gasthäusern der Londoner Innenstadt gemacht wurde.
»Kannst du nicht einen Augenblick still sitzen, Kind?«
Die Bedienstete zog an einer silbernen Spange, die in einem Meer von dunkelblonden Locken festhing.
»Autsch! Kannst du nicht aufpassen?«, kam eine scharfe Stimme unter dem widerspenstigen Haarschopf hervor.
Die Angesprochene zuckte kurz zusammen und machte sich noch einmal, diesmal mit sanfteren Bewegungen, an die festgeklemmte Spange heran.
»Weißt du, was Vater uns an unserem Verlobungstag verkündete, Ellen?«, redete die Besitzerin der stolzen Haarpracht weiter. Sie wartete nicht auf eine Antwort. »Irgendwann in der Zukunft wird mein lieber Hubertus nicht mehr Mr Argyle, sondern Lord Devreux heißen. Zum Glück gibt es keine Cousins, Neffen, Onkel oder sonstige lästigen Anwärter, die uns das Erbe streitig machen könnten. Nach unserer Hochzeit bist du meine Zofe.«
Als Antwort fuhr Ellen mit einer Hand schweigend über die gezähmten Locken und legte die nun befreite Spange auf die Schminkkommode, vor der Lady Jasmin saß.
»Und spätestens dann bin ich für dich nicht mehr ›Kind‹, sondern ›Ma’am‹«, sagte diese, während sie ihren Kopf von einer Seite zur anderen drehte und das Ergebnis von Ellens Mühe im Spiegel begutachtete.
»Oder ›Mylady‹. Und ich möchte dann mit ›Sie‹ angeredet werden, nicht mehr mit ›du‹. Bis dahin – spätestens – musst du aufgehört haben, mich so respektlos zu behandeln.«
Ellen, eine zierliche kleine Dame, die wohl einige Jahre älter als ihre junge Herrin war, zog Lady Jasmins Haare sanft nach hinten und machte sie mit einem seidenen Band fest.
»Deine Haare sind im Regen feucht geworden, sie verheddern sich mehr als sonst.«
»Tja, da hast du es leichter, Ellen, mit deinen glatten Haaren, immer streng nach hinten gekämmt und unter deiner weißen Haube zusammengeknotet. Manchmal bin ich auf dich neidisch. Du brauchst bestimmt nur zwei Minuten, um dich für den Tag fertig zu machen, nicht wahr?«
»Weniger.« Ellen wechselte das Thema:
»Mr Argyle nimmt also euren Namen an?«
»Ja klar, Devreux klingt viel edler als Argyle. Sobald mein Vater stirbt – möge der Fall aber noch lange nicht eintreffen –, heißt er Lord Hubertus Devreux. So eine Ehrerweisung. Mein Vater ist die Großzügigkeit in Person, nicht wahr? Mein geliebter Hubertus wird geadelt und erbt nicht nur den Familiensitz, sondern auch den Titel. Ist das nicht aufregend?«
Ellen war inzwischen dabei, Kämme, Spangen und Schminktöpfe in die Schubladen der Kommode zu räumen.
»Ich denke schon«, war ihre knappe Antwort.
Lady Jasmin schüttelte den Kopf und schlug mit einer Hand auf den Schminktisch.
»Ach, kannst du dich über gar nichts freuen, Ellen? Aber ich hatte vergessen: Was weißt du schon von Titeln und Adelsständen?«
»Alles, was ich wissen muss, ist, dass du glücklich bist.«
Ellen blieb kurz hinter Lady Jasmin stehen. Einen Augenblick lang musterten die beiden Frauen im Spiegel die Gesichtszüge der Jüngeren, deren feine Konturen durch die nach hinten gebunden Haare auffälliger als sonst waren, und die glänzenden blauen Augen, die im flackernden Licht zweier Kerzen zurückstrahlten. Plötzlich drehte sich Lady Jasmin um und schaute hoch in Ellens Gesicht.
»Ich habe so viele glückliche Gefühle, liebe Ellen, dass ein einziges Herz nicht ausreicht, um sie alle zu halten!« Ihre Stimme zitterte. »Ich könnte mir keinen besseren Ehemann vorstellen als Hubertus. Er ist genau so, wie ein Gentleman sein soll!«
Sie drehte sich wieder zum Spiegel, neigte ihren Kopf zur Seite und entfernte einen goldenen Ohrring aus einem Ohr.
»Das mache ich lieber selber, Ellen. Wenn du es versuchst, dann verheddern sie sich wieder in meinen Haaren.«
»Du vergisst, mein Kind, dass ich etliche Jahre Erfahrung mit deinen wilden Locken habe und sie gerade eben nach hinten